Hans Kammerlander über seine legendäre Skiabfahrt vom Everest
ALLE MEINEN, DIE KUNST BESTEHT DARIN, auf den Gipfel eines Achttausenders zu kommen. Dabei bedeutet oben angekommen zu sein wieder am Ausgangspunkt zu stehen. Im Mai 1996 stand ich nach einem Gewaltmarsch über die Nordseite nach 16 Stunden und 40 Minuten alleine auf dem Everest. In diesem Moment wurde mir zum ersten Mal bewusst, was für einen weiten Weg ich zurückgelegt habe. Nicht in erster Linie vom Basislager bis zum Gipfel, sondern vom Südtiroler Bergbauerndorf zum höchsten Gipfel der Welt. Nur ein leichter Wind blies mir um die Nase. Ich wusste, solche Bedingungen bekomme ich hier oben nie wieder. Mensch, dachte ich, jetzt hast du die mit Abstand schnellste Besteigung geschafft. Solltest du dich damit nicht zufrieden geben?
Ich habe nur einige enge Vertraute in meinen Plan eingeweiht, mit Skiern vom Everest abzufahren. Sonst hätte mir jemand diese Idee vielleicht geklaut. Oder schlimmer noch, sie ganz versaut. Wäre einfach mithilfe von Sauerstoff zum Gipfel gestiegen und hätte sich die Skier nach oben tragen lassen. Schon als ich die erste Bekanntschaft mit den hohen Bergen machte, sah ich überall Linien, die mit Skiern befahren werden könnten. Diese Abfahrt zu wagen, war mein großer Traum. Erste Schwünge habe ich an den steilen Wänden am Nanga Parbat probiert. Aber auf das, was einen da oben erwartet, kann man sich nicht vorbereiten. Im Gipfelbereich ist es zwischen 55 und 60 Grad steil. Ein Fehler bedeutet den sicheren Tod. Ich hatte Angst.
Zehn Minuten überlegte ich hin und her. Das ist eine lange Zeit, eigentlich zu lange, wenn der Rückweg noch bevorsteht. Die Entscheidung zu treffen war der schwierigs-te Moment in meinem Leben. Und dann war auf einmal alles klar. Ich wusste, dass ich es ein Leben lang bereue, wenn ich es nicht versuche. Ganz langsam bückte ich mich, öffnete die Steigeisen und schnallte mir die Skier an. Ich sehe mich noch an der Kante stehen, am Abgrund.
Die ersten hundert Meter bin ich mehr gerutscht als gefahren. Ich stand ganz extrem auf der Kante, mein Ellebogen hat den Hang zur Bergseite berührt. Nur nicht in Rü-ckenlage kommen! Bloß nicht umfallen! Meter für Meter bekam ich ein Gefühl für den Schnee, allmählich löste sich meine Verkrampftheit. Als ich auf 8000 Meter war, spürte ich, dass es mit der Sauerstoffversorgung langsam besser wurde. Dennoch war meine Reaktionsfähigkeit enorm eingeschränkt. Einmal kam ich in eine Sackgasse. Unter mir nichts als blankes Eis. Vor lauter Entsetzen fielen mir erst nach ein paar Minuten die Steigeisen ein, die ich an meinen Klettergurt gehängt hatte. Dann verlor ich auch noch einen Handschuh. Ich wusste, dass weiter unten ein Inder lag, der Tage zuvor gestorben ist. Also stieg ich zu ihm hinunter und nahm mir seinen. Ohne wären meine Finger erfroren.
Auf 7000 Meter versorgte mich mein Kamerateam mit Tee. Ich hatte für meinen Speed-Aufstieg nur einen Liter Flüssigkeit dabei, um Gewicht zu sparen. Eigentlich viel zu wenig. Das letzte Stück konnte ich fast schon genießen. Ich wusste, jetzt schaffe ich es. Nach mehr als sechs Stunden war ich unten. Überwältigt und wehmütig zugleich. Der schnelle Aufstieg und meine Skiabfahrt machten in der ganzen Welt Schlagzeilen. Es war die Zeit des großen Wettlaufs im Höhenbergsteigen – und mit diesem Erfolg war ich endgültig mittendrin.
Der 1956 in Südtirol geborene Extrembergsteiger gehört zu den bekanntesten seines Fachs. Er stand auf 12 Achttausendern und meisterte als Erster eine von zwei Varianten der Seven Second Summits. In jeder Ausgabe von ALPS erzählt Kammerlander eine Geschichte, die ihn besonders geprägt hat.
Web: www.kammerlander.com