Mit ein Meter vierzig schaut sie kaum über die Ladentheke. Und doch steht Traudl Maier seit Menschengedenken in ihrem Kramerladen am Rande von München, der irgendwie von der Zeit vergessen worden ist
Auf manche Dinge kann man sich einfach verlassen. Auf Wurst zum Beispiel. „Wenn du einem Mann eine gescheite Wurstsemmel machst, vergisst er dich nicht. Der kommt immer wieder“, sagt Traudl Maier. Sie steht in einer Blümchenschürze in ihrem Kramerladen in Kirchtrudering am Rande von München. Blonde Locken, blaue Augen und mit einer Größe von 1,40 m kaum höher als die Verkaufstheke. Es riecht nach allem – Obst, Waschmittel, Semmeln, Schinken, Kerzenwachs, Gummibärchen. In den dunkelbraunen Holzregalen findet sich fast alles, was es auch in den großen Supermärkten gibt. Nur eben auf nicht einmal zehn Quadratmetern. Traudl Maier, die von den meisten Stammkunden nur Traudl genannt wird, erzählt gerne von früher. Und von heute. Darf ich boarisch reden, fragt sie, und legt los.
Als ihre Mutter, eine ausgebildete Kauffrau, den Laden 1950 eröffnete, war Traudl gerade einmal zehn Jahre alt. Alt genug, um mitzuhelfen. Damals wurde Milch noch mit der Hand in Kannen abgefüllt, Mehl offen verkauft und mit Rabattmarken bezahlt. Das Rollfeld des ehemaligen Flughafens München-Riem endete direkt auf der gegenüberliegenden Straßenseite und Piloten und Reisende brachten Geschichten aus der Ferne mit.
Traudl ist ein echtes Original. Man muss sie erleben, sehen und hören. Ein Video von unserem Besuch in ihrem Tante-Emma-Laden in Kirchtrudering am Rande von München © Foto: Susanne Heiker / Video: Martin Moser
Seitdem hat sich vieles verändert. Und doch ist die Zeit in Traudls Reich stehengeblieben. Eine heile, fast vergessene Welt, die trotz Discountern, Lieferservice und Amazon Bestand hat. Jeden Morgen um sechs Uhr beginnt diese Welt, sich zu drehen: Laden lüften, Kaffee kochen, Hunde-Leckerli herrichten, Brezen und Semmeln in Tüten verpacken. Die Hundebesitzer sind meist die ersten. Einige Kunden kommen seit Jahrzehnten mit minutiöser Verlässlichkeit vorbei. Andere landen eher zufällig in dem unscheinbaren Laden. Viele von ihnen kommen wieder.
„Die Pfennige zähle ich aber nicht jeden Tag. Wenn sich einer beschwert, stell‘ ich ihm die Büchse hin. Kann er selber machen“
Wer Stammkunde ist, kann die Woche über anschreiben lassen und samstags zum Bezahlen vorbeikommen. „In der Früh hat ja keiner Zeit, das Kleingeld rauszusuchen“, sagt Traudl. Eine Registrierkasse hat sie nicht. Stattdessen einen Block und eine Schublade. Sauerkraut, Essiggurken, Zucker und Mehl, Senf, Tomatensoße, Eiernudeln, Apfelsaft, Öl und Essig stehen ordentlich aufgereiht in den Regalen. Auf den Produkten kleben kleine orangefarbene Zettel mit handgeschriebenen Preisen. Ihr Steuerberater hat ihr geraten, jeden Tag das Geld zu zählen. „Die Pfennige zähle ich aber nicht jeden Tag. Wenn sich einer beschwert, stell’ ich ihm die Büchse hin. Kann er selber machen.“
Als junges Mädchen wollte Traudl in einer Drogerie arbeiten. In diese glamouröse Welt mit Parfums, edlen Nylons und Lippenstiften eintauchen. „Inzwischen bin ich aber froh, dass ich Lebensmittel verkaufe. Die braucht schließlich jeder.“ Doch jeder könnte auch ein paar Straßen weiter einkaufen. Bei den Großen, wie Traudl sagt. Könnte Geld sparen und Schnäppchen ergattern. Mit dem Verkäufer an der Kasse quatschen könnte man wohl eher nicht.
Traudl hätte über viele ihrer Kunden Geschichten parat, traurige und lustige. „Aber ich behalte alles für mich. Die erzählen mir das ja im Vertrauen. Das hat schon meine Mama so gemacht“, sagt die Münchnerin. Warum sich ihr Laden trotz der Billig-Konkurrenz gehalten hat? „Ich bin fleißig und pünktlich, sperre jeden Tag um sechs Uhr auf und bin zu jedem freundlich – egal, wie viel er ausgibt.“ Dass man mit ihr reden kann, spiele aber auch eine Rolle. „Die Leute unterhalten sich draußen ja nicht mehr. Jeder rennt so daher mit dem Handy in der Hand und blickt dabei starr nach unten“, sagt sie. Die Sehnsucht nach einem aufmerksamen Zuhörer und guten Gesprächen bleibe.
„Die Leute unterhalten sich nicht mehr. Jeder rennt so daher mit dem Handy in der Hand“
Gegen 19 Uhr wird Traudl die Ladentür abschließen, den Hasen versorgen, zu Abend essen und zusammen mit ihrer Katze fernsehen. Wahrscheinlich einen Krimi, Fußball oder Boxen. Wobei das nicht mehr so spannend sei, seit Klitschko nicht mehr dabei ist. Dann vielleicht doch lieber Bachelor. „Der Bachelor ist aber gerade eine Frau, die sich einen der Männer aussuchen kann“, sagt sie. Das System gefällt ihr. Obwohl ihre Schwester erzählt hat, dass alles gestellt ist. „Die haben sogar geweint, als sie keine Rose bekommen haben.“ Wenn die 77-Jährige an die RTL-Sendung denkt, muss sie schmunzeln. Das Abendprogramm ist gesichert. Vor 22 Uhr geht sie eh nie schlafen. „Ich bin nicht gerne im Bett. Dort sterben die Leute.“
Um 4:45 Uhr ist die Nacht vorbei. Täglich von Montag bis Samstag. Viele fragen, warum sie sich das antut. Jeden Tag hinter der Theke steht. Sich nicht zur Ruhe setzt, ihr Grundstück und den Laden verkauft. Zwei Millionen würde sie sicher bekommen. „Und dann? Soll ich mich im Heim einkaufen und den ganzen Nachmittag Halma spielen oder singen? Na, wirklich nicht. Das ist doch nicht der Sinn des Lebens“, sagt sie. Und wenn sie nicht mehr so schnell sei wie früher, „mache ich eben alles ein bisschen langsamer.“
Es wird also weitergehen: Laden lüften, Kaffee kochen, Hunde-Leckerli herrichten, zuhören und Wurstsemmeln vorbereiten. Außer sonntags. Meistens. Denn hin und wieder wird ihre Ruhe gestört. Wenn ein Nachbar etwas vergessen hat, spontan grillen möchte oder unerwarteten Besuch bekommt, klopft es an der Tür. Traudl Maier ist ja da.