Was die Einsamkeit anbelangt, ist der Name Programm: Einödsbach bei Oberstdorf ist die südlichste, ständig bewohnte Siedlung Deutschlands – mit gerademal fünf Einwohnern, und den Gästen, die im gleichnamigen, idyllisch gelegenen Gasthaus übernachten. Doch trotz aller Ruhe wird es dort oben nie langweilig (ALPS Magazine #32 4/2016 Review)
Wer nach Einödsbach will, braucht eine Kutsche, ein Taxi mit guter Bereifung, zumindestens aber festes Schuhwerk. Denn die Straße, die von Oberstdorf aus durchs Stillachtal zur südlichsten ständig bewohnten Siedlung Deutschlands führt, ist nur bis zur Fellhornbahn für den Autoverkehr geöffnet. Danach darf sie aus Naturschutzgründen nur noch mit Sondergenehmigung befahren werden. Jenseits der Alpe Eschbach, einer Sennwirtschaft, ist es auch mit dem Teer vorbei. Ein anderthalb Kilometer langer Schotterweg zieht sich 200 Höhenmeter durch den Bergwald hinauf, begleitet vom Rauschen des Flusses tief unten. Die halbstündige Wanderung ist gemütlich, aber nicht besonders spektakulär – bis man kurz vor der Ankunft in Einödsbach einen ehemaligen Stall passiert.
Danach öffnet sich der Blick auf ein Bergpanorama, das man stundenlang anschauen könnte, ohne sich zu langweilen: Hinter einem Holzhaus aus alten, dunklen Balken ragen Trettachspitze, Mädelegabel, Hochfrottspitze und die Berge der guten Hoffnung so nah auf, als könnte man sie greifen. Die fahle Spätherbstsonne lässt den ersten Schnee auf den Steinen aufleuchten, und die Felszsacken wirken unter dem grau-weißen Himmel fast übernatürlich plastisch. „Unser Naturkino“, sagt Katharina Ellmann lachend. Sie sitzt auf der Terrasse ihres Gasthauses – dem einzigen bewohnten Haus von Einödsbach – und trinkt einen Tee, den ihr ihr Mann Christof herausgebracht hat. Maximilian, der älteste Sohn, räumt die Tische ab. Zur Kaffeezeit, ab drei Uhr, lässt der Betrieb etwas nach – es ist einer der wenigen Momente, in denen Katharina Ellmann überhaupt Zeit hat, sich für einen Moment hinzusetzen. Hier oben ein Gasthaus zu führen und nebenbei den Bedürfnissen einer fünfköpfigen Familie gerecht zu werden, ist eine Mammutaufgabe. Jeden Tag aufs Neue.
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Das Haus ist ungefähr 500 Jahre alt und der Allgäuer Tradition entsprechend mit weißen Holzschuppen vertäfelt. Die Küche ist gut und bodenständig (unbedingt probieren: die Forelle Müllerin), und die Zimmer sind mit 24 bis 36 Euro pro Nacht inklusive Frühstück preiswert im wahrsten Sinn des Wortes.
Einödsbach 1
87561 Oberstdorf
T. +49/(0)8322/98454
www.einoedsbach.de
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»Als wir hier anfingen, haben wir überlegt, ob wir auf den Alpin-Lifestyle-Trend aufspringen sollen. Wir haben uns dagegen entschieden – es passt nicht zum Haus, und es passt nicht zu uns.«
Katharina Ellmann
Dabei ist dieses Leben Katharina Ellmann eigentlich von Kindesbeinen an vertraut: Seit 150 Jahren gibt es hier oben gegenüber der winzigen Kapelle ein Gasthaus, und genauso lange ist es schon in Familienhand, mittlerweile in der sechsten Generation. Wie heute ihre drei Kinder Maximilian (13), Jakob (11) und Klara (7), ist auch Katharina mit ihren vier Geschwistern in Einödsbach aufgewachsen, hat hier laufen, klettern und radfahren gelernt, musste früh in Gasthaus und Landwirtschaft mit anpacken und jeden Morgen um kurz nach sieben an der vier Kilometer entfernten Schulbushaltestelle in Birgsau stehen. Trotzdem: „Es war eine wunderschöne Kindheit“, erinnert sich Katharina Ellmann, „und man wird schnell selbständig.“ Das liegt zum einen daran, dass Eltern, die ein Gasthaus führen, nicht allzu viel Zeit haben, ihre Kinder zu betütteln, und zum anderen an der Tatsache, dass man sich schon aus organisatorischen Gründen früh von zu Hause lösen muss. Katharina Ellmann ging ab der 7. Klasse ins Internat nach Oberstdorf, und zog danach, während ihrer Hotelfachlehre, zu ihrer ebenfalls in diesem Ort lebenden Oma. Dann lernte sie ihren Mann, einen Rheinländer, kennen, sattelte auf Flugbegleiterin um, und reiste zehn Jahre lang kreuz und quer durch die Welt. Schließlich kauften die Ellmanns ein Haus bei Landsberg, und bekamen die beiden Söhne. Ein Umzug in die Einsamkeit der Allgäuer Alpen war nicht vorgesehen.
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»Es ist spannend zu beobachten, wie die Leute damit umgehen, wenn sie hier von der modernen Kommunikation weitgehend abgeschnitten sind.«
Katharina Ellmann
Während des Erzählens blickt Katharina Ellmann kurz auf: Das Naturkino präsentiert sich in einer völlig neuen Facette: Der Wind hat die grauen Schleier vertrieben, der Himmel strahlt für ein paar Minuten quietschblau, und der Schnee auf den Gipfeln scheint bis nach Einödsbach hinunterzuglitzern.
Obwohl sie den Ort und diesen Blick immer geliebt hat, berichtet Katharina Ellmann, dass nicht sie, sondern ihr Mann die treibende Kraft gewesen sei, als es vor zehn Jahren darum ging, ob sie das Gasthaus von ihrer Mutter übernehmen wollte, als diese sich zur Ruhe setzte. Da alle Geschwister andere Pläne hatten, war es schließlich tatsächlich Katharina, die in die sprichwörtliche Einöde zurückkehrte. Oberstdorf mit seinen Geschäften, Hotels und der Skisprungschanze ist zwar nur zehn Kilometer entfernt, doch die können im Gebirge manchmal ganz schön weit sein. Wenn es stark schneit, zum Beispiel, oder auch, wenn etwas Technisches ausfällt.
Als die Familie im Gasthaus einzog, hatte eine Mure gerade die Zuleitung zu der Turbine mit sich gerissen. die Katharina Ellmanns Urgroßvater im nahen Bach gebaut hatte, und die den Gasthof seit Jahrzehnten mit Strom versorgte. Es gab zwar noch einen Dieselgenerator für Notfälle, doch wenn der dauernd lief – wie im Sommer 2006 –, verschlang er jeden Monat Kraftstoff für 2000 Euro. „Um wenigstens ein bisschen zu sparen, hat ihn meine Mutter jede Nacht abgeschaltet. Das ist ziemlich heftig, wenn man mit zwei kleinen Kindern in eine neue Umgebung kommt. Maximilian, der damals drei war, tappte nachts mit der Taschenlampe durch die Dunkelheit, wenn er mal musste.“
Inzwischen wurden derlei Anfangsschwierigkeiten behoben, die Turbinenleitung ist längst repariert, die Familie hat sich eingerichtet. „Es ist schon ein ziemlicher Jonglageakt – alle unsere Kinder sind aktive Langläufer und müssen zum Training nach Oberstdorf, im Winter wie im Sommer, mehrmals in der Woche, Maximilian sogar täglich. Das Bringen und Holen mit dem Gasthausbetrieb unter einen Hut zu bekommen, ist eine echte Herausforderung, aber irgendwie bekommt man dann doch immer alles hin.“
Was die Wirtschaft betrifft, ist vieles genauso geblieben, wie es zu Zeiten von Katharinas Mutter war, manches wurde aber auch behutsam verändert. „Heute kommen wesentlich weniger Leute zum Essen herauf als noch vor zwanzig, dreißig Jahren. Deshalb haben wir stärker auf Übernachtungsgäste gesetzt.“ Daraus ist sogar ein zuverlässiges zweites Standbein geworden, obwohl – oder gerade weil – die Zimmer einfach sind, und weder W-Lan noch Fernseher haben. „Als wir hier anfingen, haben wir überlegt, ob wir auf den Alpin-Lifestyle-Trend aufspringen, einen Wellness-Bereich bauen und alle Zimmer umgestalten sollen. Wir haben uns dagegen entschieden – es passt nicht zum Haus, und es passt nicht zu uns.“ Dafür können die Gäste hier ganz andere Erfahrungen machen. „Es ist spannend zu beobachten, wie die Leute damit umgehen, wenn sie hier von der modernen Kommunikation weitgehend abgeschnitten sind. Die einen genießen es von der ersten Minute an, die anderen ergreifen nach einer Nacht die Flucht. Die dritte Gruppe weiß an Anfang nicht viel mit sich anzufangen, entdeckt aber spätestens am zweiten Abend, wie schön es sein kann, einmal wieder ein Brettspiel zu machen.“ Als Fernsehersatz gibt es ja auch noch den Blick vor die Haustür: Der bietet ein so spannendes Programm, dass selbst die Einödsbacher immer wieder deswegen innehalten. Gerade läuft der Film ,Weltuntergang‘: Der Himmel hat sich komplett zugezogen, finster und riesig ragen die Felsen in die Höhe. Dicht ballen sich die bleigrauen Wolken. Bald wird es schneien.
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