Pilgerwandern von Rottach-Egern zum Schliersee – eine Erzählung von Räubern und Wundern
Egern ächzte gewaltig unter der Last der Gläubigen, die zu Fuß, mit Kutschen und Karren im August des JahrES 1747 angereist waren. Der hundertste Jahrestag der Wallfahrt zur Kirche St. Laurentius am Ufer des Tegernsees stand an. Egern, heute ein Ortsteil von Rottach-Egern, war wegen seiner Wunder weithin bekannt, Wallfahrten hierher höchst populär. 4000 Hostien wurden damals an die von weither gekommenen Gläubigen verteilt, vor allen Dingen wollten aber Hunger und Durst gestillt sein.
Was hatte das Gotteshaus von Egern so anziehend gemacht? Es war das Gnadenbild der Seligen Jungfrau Maria im Westflügel der Kirche. Seit den 1640er-Jahren zog es mehr und mehr Bittgänger und Wallfahrer an, denn deren Flehen und Gelöbnisse fanden auf wundersame Weise Erfüllung. Dies lässt sich anhand von Eintragungen in sogenannten Mirakelbüchern sehr genau nachverfolgen.
Die Mirakelbücher
Am Tag, an dem der Pfarrer ausnahmsweise auf die Kanzel stieg, ohne eine seiner berüchtigten Standpauken zu halten, waren die Bänke von St. Laurentius in Egern restlos gefüllt. Es herrschte Gedränge, jeder wollte hören, was Hochwürden zu sagen hatte. Denn er las aus dem Mirakelbuch vor. War die Bitte eines Wallfahrenden in Erfüllung gegangen, meldete er/sie dies persönlich, wenn möglich auch schriftlich, an den Pfarrer, der dieses Wunder in einem grauen Büchlein mit schwarzer Tinte detailliert festhielt. Meist mit allen Angaben zur Person, teilweise auch anonym. Einmal im Jahr stieg der hohe Herr dann auf die Kanzel und verkündete, was er so alles vermerkt hatte. Dasselbe geschah auch in Schliersee, wo es ebenfalls im 18. Jahrhundert eine Marienwallfahrt gab. Einige dieser Mirakelbücher befinden sich noch heute im Archiv des Erzbistums München und Freising und sind sogar inzwischen online zugänglich.

Eine Nachtwallfahrt im Winter hat ihren besonderen Reiz.

Die Sinne sind geschärft, jeder Schatten, jedes Geräusch, jede Berührung des Windes weckt tiefe Instinkte.
Seit über 300 Jahren finden Wallfahrten zu den Gnadenbildern der Seligen Jungfrau Maria in den Kirchen in Schliersee und Tegernsee statt. Es geschahen Wunder über Wunder als Folge von Wallfahrtsgängen und Gebeten, sodass der Strom der Bittgänger sich ständig vergrößerte. Mit der Säkularisation 1803 wurden auch diese Wallfahrten verboten, und damit wurde diese Form des Tourismus zum Auslaufmodell. Dass es am Tegernsee schön ist, hatte sich indes herumgesprochen. Einen erneuten Aufschwung genoss das Tal, als der erste König von Bayern Maximilian I. Joseph mit seiner Gattin das Kloster erwarb und zum Schloss umbaute. Fortan war Tegernsee nobel und zog Adel, Bürgertum und Künstlerschaft an.
Das Gotteshaus, das direkt am See steht, spiegelt sich im glasklaren, absinthfarbenen Wasser. Badet man im August im See, kann man in das Spiegelbild hineintauchen – auch heute noch ein magisches Vergnügen.
Von Wilderern und Wallfahrten
Auf dem Friedhof von St. Laurentius in Egern ruhen zwei einst sehr bekannte und beliebte Schriftsteller nebeneinander: Ludwig Thoma (1867–1921) und Ludwig Ganghofer (1855–1920). Beide fanden den Stoff für ihre Romane in den Erzählungen von Bauern, Sennerinnen, Jägern und Wilderern aus dem Mangfallgebirge am Tegernsee. Das Beziehungsdreieck zwischen jungfräulicher Sennerin, Jäger und Gejagtem bildeten das Sujet, beflügelten die Fantasie der Leser, besonders wenn sie sich im Gebirge, „wo die Freiheit wohnt“, und außerhalb der Enge von Moral und Sündenfall abspielten. Der Wilderer Georg (Girgl) Jennerwein, geboren 1852 als uneheliches Kind, wurde zum Stereotyp eines heldenhaften Wilderers stilisiert. Er starb am 6. November 1877 unterhalb der Rinnerspitz in den Schlierseer Bergen, also am hohen Feiertag der Rosswallfahrt am Schliersee. Getötet hat ihn ein Schuss in den Rücken, den der Amtsjäger ausgeführt hat. Nun liegt er begraben, aber unvergessen und als Volksheld gefeiert auf dem Friedhof der Kirche St. Martin am Schliersee, die Trachtenvereinsmitglieder umsorgen bis heute sein Grab. Was die Menschen an dem Wilderer so faszinierte, war die Kühnheit, mit der er sich der Obrigkeit widersetzte. Denn Letztere machte das Erlegen von Wild, welches reichlich vorhanden war, zum Privileg des Adels und hochgestellter Persönlichkeiten und nahm den Hunger im Volk in Kauf. Die Kraft und Geschicklichkeit, die es dem Wilderer ermöglichten, im Gebirge zu pirschen, sich zu verbergen und das Wild zu Tal zu bringen, war bewundernswert. Und sie fanden Komplizinnen für ihr Tun: Die Sennerin waren geschickt darin, Waffen und Wilderer zu verstecken, Wildstände auszukundschaften und Schmiere zu stehen. Zum Dank erhielten sie Fleisch. Die Unbeugsamkeit des Wilderers gibt diese Legende wieder: Einer der bekanntesten Wildschützen, der Räuber Kneißl, soll, als er gefangen und schließlich an einem Montag hingerichtet wurde, gesagt haben: „Die Woch fangt ja scho guat o!“.

In einer eiskalten Vollmondnacht glitzert der Schnee wie ein Paillettenkleid an der Flanke der Brecherspitz.

Der Mondschein zaubert Schattenspiele in das Kleid.
Der Jennerwein, der Brandner Kaspar und die Freudenreichkapelle
Die Grabstätte des Schriftstellers auf dem Friedhof in Rottach-Egern am Tegernsee und die des Jennerweins am Schliersee haben eines gemeinsam: Jäger, Brauchtumsfreunde und Heimatverbundene pilgern zu deren letzter Ruhestätte. Das Volk wallfahrtete nach Egern und Schliersee zu wundertätigen Marienbildern. Auf dem Bergrücken zwischen den beiden heiligen Orten, kam der Jennerwein zu Tode. Unweit von der Stelle, von wo aus er hinterrücks erschossen wurde, befindet sich ein Kraftort namens Freudenreichkapelle. In einer Tageswanderung lassen sich die beiden Orte und die Kapelle, die Kulisse des Todes von Jennerwein, zu einer Wilderer-Wallfahrt verbinden.
Von den Egernern wissen wir, dass sie auf ihrer Jahreswallfahrt über Schliersee nach Birkenstein durch das Kühzagltal aufsteigen. Unterhalb der Kühzaglalm, einer Brotzeitalm, beträgt die Steigung zwanzig Prozent, steiler wird es dann aber nicht mehr. Die Wallfahrenden steigen anschließend ins Dürnbachtal ab, der Weg durch den Kulissenraum des Wilderers Jennerwein führt aber unterhalb des Rainerkopfs, der Wasserspitze über die Rettenbäckalm zur Alpenvereinshütte Bodenschneidhaus.

Die Freudenreichalm gehört zum gleichnamigen Hof bei Gmund am Tegernsee. Die Tradition, Kapelle und Alm zu erhalten, empfindet die Familie als eine heilige Pflicht.
Erst ein wenig holprig, dann angenehm, führt der Weg von der Bodenschenid zur Freudenreichalm hinab. Hier, unterhalb der Rinnerspitz kam es einst zum Showdown zwischen dem königlichen Jagdgehilfen Pföderl, dem Jagdgast Franz von Kobell und dem Jennerwein. Letzterer hatte sich zum Wildern den 6. November ausgesucht, also den Tag, an dem in Schliersee die Leonardifahrt stattfindet, eine Wallfahrt, die von der Stadtmitte nach Fischhausen führt und die ganz Schliersee in Aufruhr versetzen würde, Pferde werden vor Wagen und Kutschen gespannt, umkreisen die Kirche, es geht ausgelassen, fast frivol, zu. Worauf der Jennerwein wohl spekulierte, war, dass sich alle mit einer ausgiebigen Nachtruhe auf dieses Fest vorbereiten würden. Nun, er irrte. Pföderl sollte einen hohen Gast, den Dichter Franz von Kobell, zur Gams führen und war mit dem Adligen zur Rinnerspitz aufgebrochen. Dort traf er auf Jennerwein, Pföderl feuerte, schoss dem fliehenden Wilderer in den Rücken, ein für diesen Beruf gar nicht so unüblicher Tod, aber in diesem Fall empörte sich das Volk ob dieser ehrlosen Tat. Wie Franz von Kobell die dramatische Szene auffasste, ist leider nicht überliefert. Aber bis heute wird sein Stück „Der Brandner Kaspar und das ewig’ Leben“ für seine Tiefenschärfe in München gefeiert und sorgt für ausverkaufte Häuer. (Kurzzusammenfassung: Ein Büchsenmacher überlistet den Tod mit Kirschgeist).
Die Freudenreichalm gehört zum Bauernhof mit dem gleichen schönen Namen, der zwischen Hausham und Gmund liegt. Der Legende nach ist der Herrscher von Waldeck nach einer langen Pilgerreise hier vorbeigekommen, sah von der Anhöhe endlich die heimatliche Burg Hohenwaldeck am Schliersee wieder und soll gejubelte haben: „Dieser Ort soll Freudenreich heißen.“ Der Alt-Bauer vom Freudenreichanwesen erzählte dies bei einem Besuch. „Es ist vielleicht nur eine Legende.“ Was ihn mehr zu beschäftigen scheint, ist die Renovierung der Freudenreichkapelle. Zwar weiß er nicht mehr, aus welchem Grund seine Ahnen die Kapelle gebaut haben, aber was er weiß, ist, dass es ein Kraftort ist, auf dem sie steht, und dass er, hochbetagt, die Verantwortung für den Erhalt trägt und Renovierungen anstünden.
Die Exponiertheit der Freudenreichkapelle ist Kon-Tiki-esk: Sie ist ein Schiff über dem Wolkenmeer, das über drei Seen fährt, den Tegernsee, den Schliersee und den Spitzingsee. Sie liegt auf 1587 Metern auf einem Felssporn oberhalb der Freudenreichalm. In ihrer Winzigkeit ist etwas sehr Stolzes. Der Innenraum dürfte kaum größer als ein oder zwei Quadratmeter sein. Ihre Schlichtheit rührt an, ihre Trutzigkeit imponiert. Sie ist nie versperrt, und die Autorin dieser Zeilen hat in ihr in einer Winternacht bei minus 16 Grad Celsius Schutz und selten heimelige Geborgenheit gefunden.

ber dem Mangfallgebirge geht die Sonne auf.
Über die Ankelalm führt der Weg hinab nach Neuhaus und Fischhausen am Schliersee zur Wallfahrtskirche St. Leonhard, einem architektonischen Kleinod: Der Rundbau von 1655 soll den berühmten Architekten der Wieskirche, Johann Baptist Zimmermann, inspiriert haben. In der Kirche finden kaum mehr als fünfzig Personen Platz, sie nimmt die Menschen an die Hand, löst Hierarchien auf, verbindet sie unter der herrlichen Stuckdekoration der Decke, die Schlierseer Maurer schufen.
Die letzte Station der Wallfahrt ist natürlich das Grab des Georg Jennerwein auf dem Friedhof von St. Martin. Der Weg führt am Ufer des Schliersees entlang durch den Ort und ist kurzweilig, im Sommer kann man auch ein Boot nehmen. Auf dem Grab liegt ein Gebinde aus Alpenrosen, die Grabkerze brennt. Eine Fotografie zeigt „den stolzen Schütz in seinen schönsten Jahren“, so die Inschrift. Der Erhalt eines Wallfahrtsbrauchs, die Pflege eines Grabes durch den Trachtenverein, die Sorge für die Freudenreichkapelle durch die Bauern und das Almpersonal, sind glänzende Respektbekundungen, die leise fragen: An wen erinnerst du dich, für welchen Brauch möchtest du dich einsetzen? Woran soll man sich erinnern?

Pilgern ist ein wenig wie fliegen: Der Geist bekommt auf dem Weg Flügel.
Zwischen Tegernsee und Schliersee
Startpunkt: Rottach-Egern
am Tegernsee (734 m)
Endpunkt: Fischhausen
am Schliersee (801 m)
Streckenlänge: ca. 20 km
Höhenmeter: je nach Variante
950 bis 1050
Zeitaufwand: 6 bis 8 Stunden
Wegverlauf: Vom Seeufer in Rottach-Egern läuft man zunächst in Richtung Haslau und dann entlang des Kühzaglbachs zur Kühzaglalm (1061 m) und über das Bodenschneidhaus (1365 m) hinauf zur Freudenreichkapelle (1587 m) am Dürnbachgrat mit beeindruckendem Talblick (Achtung: das letzte Stück ist recht steil). Der Abstieg über die Dürnbachwand erfordert hervorragende Kletterfähigkeiten in ungesichertem Gelände und ist nur für Profis mit entsprechendem Equipment zu empfehlen. Auch wer den etwas leichteren Weg über die Ankelalm (1285 m) nimmt, sollte schwindelfrei sein. Für den Pilger zu empfehlen ist die Route über die Untere Freudenreichalm (1262 m) hinab ins Dürnbachtal und weiter bis an den Schliersee. Um sich genügend Zeit für die Besichtigungen zu nehmen, ist es ratsam, die Tour auf zwei Tage aufzuteilen (mit Übernachtung auf dem Bodenschneidhaus, das auch im Winter geöffnet ist).
Highlights und Tipps: Die Freudenreichalm wird in den Sommermonaten bewirtschaftet und bietet eine schöne Einkehrmöglichkeit. Eine Alternative zur beschriebenen Route wäre im Winter bei guter Schneelage eine Rodelabfahrt über die Obere Firstalm (1375 m), die auch Schlitten verleiht. Im Winter bei guter Eislage lässt sich St. Sixtus in Schliersee von Fischhausen aus mit Schlittschuhen anfahren; im Sommer mit dem Boot.
© Text & Fotos aus dem Band „Hoch & heilig. Pilgern in den Alpen“, Knesebeck Verlag 2024
Innere Einkehr und eine intensive Verbindung zur Natur erleben: Dazu lädt das Pilgern in den Alpen ein. Denn im Alpenraum gibt es zahlreiche geheimnisvolle Wege, sakrale Pilgerziele und Orte heidnischen Ursprungs: Einsiedeleien auf entlegenen Bergwiesen, abgelegene Klöster und Kapellen, sagenhafte Quellen …
Sandra Freudenberg und Stefan Rosenboom gehen zwölf dieser besonderen Wege in Deutschland, Österreich, Italien und der Schweiz. Die hier beschriebene Tour „Wilde Wallfahrt auf den Spuren Bayerischer Rebellen“ ist eine dieser zwölf Geschichten aus ihrem Buch „Hoch und heilig. Pilgern in den Alpen“.
Auf den Spuren uralter Pilgerwege, Wallfahrten und Bittgangwege geben sie in ihrem Buch Einblick in eine ganz besondere Art des Wanderns und in die Kultur und Geschichte des zentralen Alpenraums. Sie erzählen, wie sie die Wege erlebt haben und beleuchten Menschen, Legenden und Hintergründe, die mit den Touren verbunden sind.
Die Auswahl ihrer Touren eignet sich für alle Jahreszeiten und reicht von wenigen Stunden Gehzeit bis hin zu knapp zwei Wochen langen Routen. Eingefangen wird der Charme der Pilgerwege und der sie umgebenden Landschaften durch die atmosphärischen Fotografien von Stefan Rosenboom.
Sandra Freudenberg, Stefan Rosenboom
HOCH UND HEILIG Pilgern in den Alpen
Gebunden, 208 Seiten, mit ca. 200 farbigen Abbildungen, Preis 38 Euro. Knesebeck Verlag www.knesebeck-verlag.de