Vor sechs Jahren konnte Agitu Ideo Gudetu in letzter Minute aus Äthiopien fliehen. Eine seltene Ziegenrasse im Trentino gab ihr neuen Lebensmut. Und Genießern einen großartigen Käse
Mühsam quält sich der Fiat Panda durch den Matsch. Rechts ragt eine hohe Trockenmauer auf, links fällt die scharfe Kante des terrassierten Berghangs jäh ab. Oben angekommen, springt Agitu vom Steuer ins Gehege. Vor ihren Füßen staksen zwei Kitze, wenige Stunden alt, zitternd und ungelenk hinter ihrer Mutter her. Die Geiß stupst die Neugeborenen kaltherzig vom Euter weg. Zwei Schritte weiter streichelt Agi den Hals einer hochträchtigen Ziege: „Trilli, heute Nacht bist du dran, nicht wahr?“ Und die Frau vom Horn von Afrika weiß, dass sie wieder zur Stelle sein muss, mit ihrer Stirnlampe und den Gummihandschuhen, um auf der finsteren Weide in den Dolomiten beim Ablammen zu assistieren.
Die Geschichte von Agitu Ideo Gudeta, 37, ist die Geschichte einer doppelten Rettung. Der Rettung einer von der Angst aus Äthiopien vertriebenen Frau. Und der Rettung der gescheckten Mochena-Ziege, einer im östlichen Trentino heimischen, aber vom Aussterben bedrohten Gebirgsrasse. „Die Ziegen“, sagt Agitu heute, „haben mir mein Leben zurückgegeben.“ Die Tiere zu versorgen, draußen an der Luft zu sein, das habe ihr geholfen, sich wieder aufzurappeln. Agi, wie sie ihre italienischen Freunde nennen, gründete im 250-Seelen-Dorf Valle San Felice einen landwirtschaftlichen Betrieb mit Käserei. Sie nannte ihn La Capra Felice, die glückliche Ziege. Das ist mehr als ein Name. Es ist ein Programm.
Denn die Mochena war alles andere als glücklich. Sie hatte das Pech, nicht mit der Leistung ihrer hochgezüchteten Artgenossinnen mithalten zu können. 2005 gab es nur noch wenige Exemplare. Dabei ist die Ziege robust, schwindelfrei, trittsicher und genügsam. Sie kann ganzjährig im Freien gehalten werden, was sie für die nachhaltige Landwirtschaft empfiehlt. Sie bewegt sich gern in unwegsamem Gelände und ist daher eine ideale Verbündete im Landschaftsschutz. Sie frisst sich durchs Gestrüpp und bringt verwilderte Weiden wieder in Schuss. Ihr leichter Tritt massiert die Böden, sorgt für eine gute Drainage und beugt so der Erosion vor. Ihr einziger, für ihr Schicksal allerdings entscheidender Makel: Sie gibt wenig Milch. Die Äthiopierin aber faszinierte das Tier. Vor sechs Jahren war sie nach Italien geflohen, vor Häschern in ihrer Heimat, die sie zu verhaften trachteten. „Die Rasse eignete sich gut für meine Vorstellung von Viehzucht“, sagt sie. „Und anderthalb Liter pro Tag sind doch ein ordentlicher Ertrag.“
Agitus Vorfahren waren Nomadenhirten. Die Großmutter hielt Ziegen auf ihrem Hof. Sie selbst, Tochter eines Transportunternehmers aus Addis Abeba, hatte mit einem Stipendium in Italien an der Universität Trient Soziologie studiert und war nach dem Abschluss nach Äthiopien zurückgekehrt. Sie wollte dort Projekte zur Förderung der Landwirtschaft unterstützen.
Doch in ihrer Heimat eckt die Rückkehrerin an. In der Region Mojo, 70 Kilometer südöstlich der Hauptstadt, unterstützt Agitu den Widerstand gegen den Landraub ausländischer Konzerne, gegen die brutalen Enteignungskampagnen der Regierung und gegen eine giftschleudernde Zementfabrik mitten in den Feldern. An einem Sonntagabend vor sechs Jahren erfährt sie von einer Razzia im Dorf. Auch gegen sie läge ein Haftbefehl vor. Sie schnappt sich ihren Pass und eine Jacke, rast auf der Straße durch das Rift Valley Richtung Nairobi und springt in ein Flugzeug. „Als ich in Mailand landete, fühlte ich mich wie der freieste Mensch der Welt.“
Das entwaffnende Strahlen weicht aus ihrem Gesicht, als sie von der Existenzangst ihres frühen Flüchtlingsdaseins erzählt. Anfangs muss ein Job in einer Kaffeebar in Mori reichen, ein Städtchen zwischen Gardasee und Rovereto. Allmählich entwickelt sie ihr Ziegenprojekt. Sie geht damit zu Massimo Pirola in die Provinzverwaltung von Trient. Der hat 2009 eine Vereinigung zum Schutz der Mochena-Ziege gegründet. Pirola ist skeptisch. „Wie willst du das allein anstellen?“, fragt er. Doch als der Italiener Agitus Hartnäckigkeit kennenlernt, setzt er Hoffnung in sie. Und täuscht sich nicht.
Denn La Capra Felice macht immer glücklicher. In diesem Jahr kümmert sich Agitu um 60 trächtige Ziegen. 20 Zicken will sie behalten, um ihre Rohmilchkäse-Produktion auszuweiten. Im sonnigen Gresta-Tal finden die Ziegen auf 800 Meter Höhe ganzjährig ideale Bedingungen vor. Auf den Wiesen sprießen Gourmetgräser. Thymian, Schafgarbe, Bohnenkraut, Salbei, Löwenzahn, Gemeiner Wermut und andere Wildkräuter geben der Milch einen intensiven Geschmack.
Agitus Biokäse hebt sich deutlich von industriellen Angeboten ab. Aus der Rohmilch stellt sie Weich- und Hartkäse her, cremige und würzige, frische und gereifte, fein aromatisierte und pikante Sorten. Morgens um vier Uhr steht sie auf und fährt zu den Ziegen hoch. Zwei Stunden braucht Agitu, um sie von Hand zu melken. In ihrer modernen Käsewerkstatt im Dorf erhitzt sie dann die Milch in einer 400-Liter-Stahlwanne im Wasserbad auf 35 Grad und setzt pflanzliches Lab zu. Zur Reifung kommen die Formen in eine unterirdische Grotte, wo sie auf Gittergestellen in kühler, feuchter Luft lagern. In ihrem Laden in dem 250-Seelen-Weiler Valle San Felice verkauft Agitu an Einheimische und Urlauber. Außerdem beliefert sie private Einkaufsgemeinschaften und die Gastronomie.
„Die Pariser würden horrende Preise für ihren Käse zahlen“
Als es dunkel wird, schaut Ivan herein. Er ist Stammkunde der Capra Felice. In seinem Restaurant „Locanda D&D Maso Sasso“ in Nogaredo serviert er den Gästen am liebsten ihren Ziegen-Gorgonzola. „Würden die Pariser sehen, wie Agis Käse entsteht, ginge er an der exklusiven Avenue Foch zu horrenden Preisen weg“, sagt Ivan. Er muss es wissen, er ist mit einer Französin verheiratet. Tatsächlich haben die Feinschmecker die Köstlichkeiten der glücklichen Dolomitenziegen längst entdeckt. Ein Londoner Laden prämierte den Käse, ein italienisches Gourmet-Magazin stellte Agitus Robiola, Ricotta und Stravecchio vor. Und im vergangenen Herbst stand die Einwanderin in Jeans und weißer Bluse mitten im Städtchen Bra im Piemont auf einem Podium und wischte sich gerührt eine Träne aus dem Auge. Sie war von der Bewegung Slow Food mit dem „Käse-Widerstands-Preis“ ausgezeichnet worden.
Agitu will in diesem Sommer erstmals mit ihren Ziegen auf die Alm steigen, von wo die Mochena-Ziege ursprünglich herstammt, aus dem Valle dei Mocheni. Deutsche Siedler aus Bayern und Böhmen, von den ansässigen Feudalherren in die unbevölkerte Gegend gerufen, hatten das Tal bei Trient ab dem 14. Jahrhundert urbar gemacht. Bis heute bewahrt sich in nurmehr drei Gemeinden des Trentino ihre eigentümliche Mundart, die sich aus dem Althochdeutsch entwickelt hat, die Bersntoler Sproch.
Den Namen des Tals leiten Historiker aus der Verbform „mòchen i“ (mache ich) ab. Er drücke aus, dass die deutschen Ureinwohner, die mocheni, als zupackende Genossen galten. Agitu Ideo Gudeta, die leidenschaftliche Hirtin aus Afrika, scheint eine ferne Verwandte zu sein.