Unser Autor ist mit Tochter Stella im Anhänger über die Alpen geradelt. Dabei musste er sich erstens um sein kleines Mädchen kümmern. Zweitens um das Material. Und drittens, gelegentlich, um sich selbst
Was es wirklich heißt, mit dem Kleinkind im Anhänger über die Alpen radeln zu wollen, wird mir ein paar Wochen vorher klar. In der Kinderabteilung von H&M. »Stella, jetzt suchen wir dir ein praktisches Kleid aus, das schnell trocknet, und das nehmen wir dann mit, wenn wir mit dem Fahrrad an den Gardasee fahren.« – »Okay, Papa, DAS hier!« Sie zeigt auf ein hellgrünes Feenkleid aus Tüll mit rosa Flügeln dran. Aber was soll ich machen? Sie soll Lust haben auf die Sache. Es wird also ein Feenkleid gekauft.
Ich will mit meiner Tochter über die Alpen fahren. Sie heißt Stella, sie ist drei, und sie mag eben Feenkleider. Ich fahre mit dem Mountainbike, sie sitzt hinten im Anhänger. Sieben Tage, Garmisch – Gardasee, das ist der Plan.
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»Die Wetterfee kündigt knallheisse Sommertage an. Und nachmittags Gewitter«
Zu diesem Plan muss ich mir einige Fragen anhören, von Freunden, Verwandten, Bekannten: Warum über die Alpen? Na, weil ich im Allgäu aufgewachsen bin und die Berge nach Jahren im Ausland meine Heimat sind. Warum mit dem Fahrrad? Weil es langsam genug ist, um etwas von der Welt mitzubekommen. Warum mit deiner Tochter? Weil sie gerade robust genug ist, um so etwas auszuhalten. Und leicht genug, um sie über die Alpen zu karren. Warum ab Garmisch? Weil da meine Schwester wohnt, dort kann ich mein Auto abstellen, sie holt uns dann ab – entweder am Gardasee oder auf der Strecke, falls etwas schiefgeht. Warum zum Gardasee? Weil er in Italien liegt. Weil man dort Eis essen kann. Weil meine Tochter Stella heißt. Weil die Route schwer genug ist, um mich zu fordern. Und doch machbar genug, um sie mit Kind im Hänger und Rucksack auf dem Rücken zu bewältigen.
Und dann ist da Tag X. Wir wachen später auf als geplant. Wir kommen später in Garmisch an als geplant. Wir kommen natürlich auch später in Garmisch los als geplant.
Weil bei Uta und Stefan im Garten ein fabelhaftes Trampolin steht. Stella hüpft mit einer Ausdauer als wüsste sie, dass sie in den nächsten Tagen viel still sitzen muss.
Endlich geht es los, Richtung Fernpass. Der Wetterbericht kündigt knallheiße Sommertage an – mit Gewittern am Nachmittag. Stella sitzt in einem geländegängigen Anhänger, vollgefedert, mit Überschlagbügel. Mein Vorsatz ist ein absolut kinderfreundlicher Rhythmus: nach dem Frühstück rumtoben; dann zwei, drei Stündchen radeln; dann rumtoben, Eis essen, Freibad; dann weitere zwei, drei Stündchen radeln; ankommen. Es ist ein absolut vaterfeindlicher Rhythmus: spät losfahren, durch die Hitze ackern, spät ankommen. Das würde man ohne Kind genau andersherum machen.
»Ich komme mir vor wie ein ausrangierter Traktor«
Es geht über den Fernpass. Tausende Male bin ich den gefahren, mit meinen Eltern, mit diversen Freundinnen, glücklich auf dem Weg nach Süden, ein wenig traurig auf dem Heimweg. Aber das war immer auf der Autostraße. Jetzt fahre ich ihn zum ersten Mal auf der alten Römerstraße. Vorbei an einer Sommerrodelbahn, da mault meine Tochter das erste Mal. Natürlich will sie lieber rodeln als im Anhänger sitzen. Ich will Strecke machen. Und gegen einen 41-jährigen Vater hat ein dreijähriges Mädchen ungerechterweise selten eine Chance.
Als Ausgleich machen wir Pause an der Passhöhe. Am Fernsteinsee mieten wir uns ein Schwanentretboot – die erste große Attraktion für Stella. Ab jetzt geht es für mich nur noch bergab. Ich teste die Bremsen, sie halten, also sausen wir der Abendsonne entgegen nach Westen, nach Imst. Im Internet hatte ich einen Bauernhof gefunden, drei Kühe, einen Spielzeugtraktor und nicht weit eine Pizzeria: Das Kind ist glücklicher, als es in jedem 5-Sterne-Hotel sein könnte. Von dem Feenkostüm, das ich im letzten Moment noch aus dem Rucksack schmuggeln konnte, keine Rede. Es läuft also.
Zwei Tage geht es den Inn entlang hinauf. Aus dem trägen, breiten Strom in einem trägen, breiten Tal wird kurz vor der Schweiz ein rassiger, rauschender Gebirgsfluss. Die gelben und blauen Wasserrutschen in den Schwimmbädern am Weg erkennt meine Tochter Kilometer im Voraus, wie ein Radarsystem. Wir lassen keine einzige aus – und garnieren die Pausen stets mit einem Eis danach und manchmal noch einem davor.
Ihrem Teddybären erklärt Stella, soweit ich das von vorne hören kann, mit großer Geduld die Streckenführung. Er hört ihr dabei mit ebenso großer Geduld zu. Die Gewitter kommen zuverlässig immer dann, wenn ich unser tägliches Soll abgestrampelt und unser Gespann geparkt habe. Wir frühstücken mal im Altersheim (von Imst), später auch mit Silberbesteck am Büfett eines in die Jahre gekommenen Grandhotels (in Meran) und mal auch direkt an der Hauptverkehrsstraße (im Café in Neumarkt). Mal gibt es fürs Kind ein paar Kühe zu streicheln, mal für mich einen Reifen zu flicken und mal für uns beide eine Runde auf der Schaukel, bevor wir in den Tag starten.
Der Vinschgau mit seinen Apfelplantagen rauscht an uns vorbei. Das Südtiroler Unterland mit seinen Weinbergen rauscht an uns vorbei.
Elf verfluchte Passkehren hinauf nach Nauders, in der prallen Mittagshitze. Im Takt von Nähmaschinen surren eine Handvoll Rennradfahrer an mir vorbei, in Italienisch bunt. Ich komme mir vor wie ein ausrangierter Traktor im Wettrennen mit 911ern. Bis ich an einer Frau vorbeikeuche, die von Kiel bis Pisa radelt. Sie ist die Einzige, die noch mehr Gepäck dabeihat als ich. Pause, strampeln – und da weht schon die grün-weiß-rote Flagge über dem Reschenpass. »Stella, wir sind in Italien!«, schreie ich – »Juhu!«, schreit sie pflichtgemäß und erklärt dem Teddybären, dass auch er nun in Italien sei. Was auch immer das für ihn und sie bedeuten mag, für mich bedeutet es erst mal einen Espresso doppio, so heiß und stark und schwarz, dass sich das Koffein praktisch schon beim Inhalieren in meiner Antriebsmaschinerie breitmacht.
Der Vinschgau mit seinen Apfelplantagen rauscht an uns vorbei. Das Südtiroler Unterland mit seinen Weinbergen rauscht an uns vorbei. All die Höhenmeter, die ich mich über den Fernpass und das Inntal hinaufgequält habe, verpulvere ich jetzt wieder. Doch der Radweg wird mir zu voll, zu viele deutsche und holländische E-Bike-Touristen pro Quadratmeter, ich will wieder ein Stück alpine Abgeschiedenheit. Und quäle mich – vielmehr uns – hinauf in die Paganella-Hochebene westlich von Trento.
Stella kräht: »Papa, ich habe das weiße Kissen vergessen.« Vergessen? Ich kehre jetzt nicht mehr nach Neumarkt um. Ein weißes Kissen hat sie eh keins, sie hat ein gelbes. Ich strample weiter, kämpfe gegen Mittagshitze, Schwerkraft, Hunger, Durst. Jetzt weint Stella, schluchzt, ihre Worte sind schwer zu verstehen, es geht offensichtlich immer noch um das vermeintlich vergessene, vermeintlich weiße Kissen. Ich ignoriere sie, nächste Kurve. Aus dem Weinen wird Flehen, sie klingt schon fast heiser, na gut, da vorne ist Schatten, da halte ich kurz an, um sie zu trösten. Schnell ist mir klar: Sie hat tatsächlich den gelben Überzug vom weißen Kissen abgezogen und das Kissen aus dem Anhänger fallen lassen. Jenes Kissen, das ihr und dem kleinen Bären ein so kuscheliges Polster war. Ich Idiot! Also umkehren, zwei, drei, vier Kehren hinab – und da liegt es, das gottverdammte weiße Kissen. Alles ist gut. Nur für meine Beine sind es 150 Höhenmeter mehr. Aber die fragt eh keiner nach ihrer Meinung.
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»Meine Nerven sind ziemlich runter. Aber Stella ist begeistert. Sie darf schon wieder pumpen helfen«
Manchmal macht das Kind, das da hinten mit seinen 15 Kilogramm im Anhänger sitzt – dessen Kleider und Kekse und Kikeriki-Flaschen man über die Alpen schleppt; das einem den Rhythmus aufdiktiert; das nachts, wenn man die müden Knochen und das wunde Fleisch endlich dem Schlaf übergeben will, noch eine einzige Einschlafgeschichte braucht und dann noch eine –, manchmal also macht einem dieser kleine, unbarmherzige Diktator das Leben einfach nur leicht und schön und wunderbar. Zum Beispiel in Margone, einem Kaff rund 30 Kilometer vor Torbole: Einen Platten habe ich gerade schon geflickt. Jetzt, am Ortseingang von Margone, macht der Reifen zum zweiten Mal »pffft«. Wieder flicken, wieder wechseln, am Ortsausgang schon wieder »pffft«. Meine Nerven sind ziemlich runter. Aber Stella ist begeistert: Sie darf schon wieder pumpen helfen! Und da gibt es eine Katze! Und man kann auf der Straße Verstecken spielen! Alles eben eine Frage der Perspektive. Und ich weiß, meine Laune wäre jetzt tausendmal schlechter, wenn ich alleine den dritten Schlauch hätte wechseln müssen. Die letzten Kilometer hat Stella keine Lust mehr. Ich kann sie verstehen. Aber jetzt sind es nur noch zehn, neun, acht Kilometer bis Torbole, bis zum Gardasee. Und es ist allerhöchste Pizzazeit, da mache ich jetzt keine Pause mehr. Steige in die Pedale, ignoriere ihr Quengeln.
Und dann ist da dieser Weg am Campingplatz vorbei. Wir stellen das Rad ab und staksen über Kieselsteine. Nach 420 Kilometern, 6483 Höhenmetern Aufstieg und 7188 Metern Abfahrt, stehe ich plötzlich vor einer großen, dunklen Wasserfläche. Die letzten Sonnenstrahlen leuchten uns noch, die Szene wäre zu kitschig für einen Hollywoodfilm. Ich nehme meine Tochter in die Arme. Sie hat durchgehalten. Ich habe durchgehalten. Das Material hat durchgehalten. Ich küsse sie. Glücklich, erschöpft, stolz, mit Tränen in der Kehle rufe ich: »Juhuuuu, Stella! Wir sind …«, und sie ergänzt: »… am Gardasee!«
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