Hans Kammerlander über den Neuanfang nach brutalen Rückschlägen
JEDER SOLLTE IM LEBEN ZIELE HABEN. Ich habe sie mir schon in der Kindheit und Jugend gesetzt. So habe ich zum Beispiel einen ganzen Sommer gearbeitet, um mein erstes Paar Skier kaufen zu können. Und dann natürlich die Berge. Wie oft bin ich in meiner Jugend, sprudelnd vor Motivation, in eine Wand gestiegen. Nicht selten musste ich abbrechen, weil ich den Berg noch nicht lesen konnte. Das war für mich kein Rückschlag, sondern ein Grund mehr, noch härter zu trainieren und es wieder zu versuchen. Mit dieser Einstellung konnte ich meine Ziele in den Dolomiten mit der Zeit verwirklichen. Wenn es dann endlich geklappt hat, war es immer sehr intensiv. Abbrechen, wenn es nicht geht, und wiederkommen: So habe ich es auch mit den größten Bergen der Welt gehalten. Die Besteigung des Everest gelang mir erst im dritten Anlauf.
Nach einem Rückschlag aufzugeben war für mich keine Option. Bis 1991 bei dem Versuch, den Gipfel des Manaslu zu erreichen, innerhalb von ein paar Stunden meine beiden Begleiter starben. Dieses Horrorszenario hat meinen Willen völlig gebrochen. Der Berg wurde zu meinem Feindbild und ich sagte mir: Da gehst du nie wieder hin! Heute weiß ich, dass ich ihm ausgewichen bin, weil ich Angst hatte, dass die Erinnerung zurückkommt. Wie hätte ich wissen können, dass mich erst eine andere Tragödie eines Tages zu diesem Berg zurückführen würde?
Der Jasemba war ein Ziel, das ich lange vor Augen hatte. 2005 versuchte ich die Besteigung mit Luis Brugger und Karl Unterkircher. Die Bedingungen waren schwierig, wir mussten abbrechen. Am Berg gibt es eben keine 100-prozentige Sicherheit, nur Versuche. Im nächsten Jahr kehrten Luis und ich zurück, Karl war in Tibet unterwegs. Wir waren gut akklimatisiert und stiegen eine weite Strecke nach oben. Am darauffolgenden Tag wollten wir den Gipfel besteigen und machten uns wieder auf den Weg nach unten zu unserem Lager, um Energie zu tanken.
Luis seilte sich vor mir ab. Ich wartete hinter einem Felsvorsprung, bis das Seil locker wurde – für mich das sichere Zeichen, dass er sich an der nächsten Stelle eingehängt hatte und ich dran war. Als ich ums Eck kam, war er weg. Verschwunden im Hunderte Meter tiefen Nichts. Es dauerte einen Moment, bis ich realisierte, dass mein Freund abgestürzt war und dass das Kletterseil für den weiteren Abstieg – mein Lebensfaden! – in seinem Rucksack lag. Dann schlug die Gewissheit mit voller Wucht ein. Ich musste volles Risiko gehen, um nach unten zu kommen. Heute weiß ich gar nicht mehr, wie ich das geschafft habe.
Daheim habe ich mich komplett zurückgezogen. Es schmerzte alles zu sehr. Nach ein paar Wochen kam Karl von seiner Expedition zurück und besuchte mich. Er sagte immer wieder: Lass uns das beenden, auch für Luis. Heute bin ich für seine Hartnäckigkeit dankbar. Als ich ein Jahr später dem Gipfel des Jasemba entgegenging, wusste ich, dass es die richtige Entscheidung war.
Der Weg nach vorne ist die beste Medizin, das gilt nicht nur für Sportler. Es geht nicht um das Wie, sondern ums Dass. Ein Ziel über einen holprigen Weg zu erreichen, zählt am Ende sogar mehr.
Deshalb habe ich mir ein nächstes Ziel gesteckt: den Manaslu.
Der 1956 in Südtirol geborene Extrembergsteiger gehört zu den bekanntesten seines Fachs. Er stand auf 12 Achttausendern und meisterte als Erster eine von zwei Varianten der Seven Second Summits. In jeder Ausgabe von ALPS erzählt Kammerlander eine Geschichte, die ihn besonders geprägt hat.
Web: www.kammerlander.com