Was machen drei weitgereiste Allgäuer, wenn sie Heimweh haben? Richtig, sie ziehen in die Berge. Auf Skiern, mit Sack und Pack, ganz aus eigener Muskelkraft
Schon die Skistiefel anziehen? Dafür wäre ja ich. Oder weiter in Turnschuhen gehen, mit Ski und Skischuhen am Rucksack? Dafür sind Aki und Martin. Wir leben, auch hier oben am Berg, in einer Demokratie. Also stapfen wir noch ein paar Kehren so weiter. Dann aber reicht es mir, Minderheit hin, Mehrheit her: Vor mir hat der letzte Wintereinbruch ein ausreichend breites und langes Band an Schnee auf den Forstweg tapeziert, und die Last am Rücken ist mir einfach zu schwer – weiter geht es auf Ski. Bis nach zwei Kurven das Frühjahr wieder die Oberhand hat und wir die Ski wieder abschnallen und tragen müssen …
Hier, auf dem Weg zur Hermann von Barth-Hütte, der höchsten Hütte in den Allgäuer Alpen, gibt es weder Lift noch Skipiste. Auch wird es oben, im Winterraum der Hütte, keinen Hüttenwirt haben, der uns auf Fingerschnippen die Kässpätzle auftischt oder auch nur ein Glas Skiwasser serviert. Wir müssen alles selbst hinaufschleppen. „Abrr ’s Läba isch koa Nudlsuppa – du muasch o a mol beissa“, sagt Martin, für Nicht-Sprachkundige: „Das Leben ist keine Nudelsuppe – manchmal muss man auch beißen!“
Aki kommt aus Füssen, so wie ich. Martin aus Nesselwang. Wir sind in der Welt herumgekommen, mit dem Motorrad durch Afrika der eine, in Bolivien war der andere, zwischen Paris, Chicago und Buenos Aires tingelte der nächste, und je älter wir werden, desto mehr merken wir: Daheim im Allgäu ist es so schlecht eigentlich nicht. Alle drei haben wir uns nach unseren Auslandsgastspielen immer näher an die Heimat herangerobbt, in Tölz wohnt der eine, in Partenkirchen der andere, immerhin schon halb in Nesselwang der nächste. Und am schönsten ist es für einen Allgäuer immer noch? Richtig, am Berg. Und zwar möglichst allein am Berg. Deshalb kämpfen wir uns, bepackt mit dem Proviant für eine Antarktis-Durchquerung, an diesem Spätwintermorgen hinauf, Höhenmeter für Höhenmeter.
„Du muasch o a mol beissa“
Aus eigener Kraft aufsteigen, mit Ski und Fellen, darum geht es beim Skitourengehen. Die Übernachtung im Winterraum ist quasi nochmal die Steigerung der Mühsal: Mit eigener Energie die Verpflegung auf den Berg schleppen.
Wir kommen von Süden, aus dem Lechtal. Denn in den schattigen Nordseiten lauern gefährliche Lawinen, haben uns die Bergführer gewarnt, auch wenn der Aufstieg wesentlich bequemer gewesen wäre. „Abrr ‘s Läba isch koa Nudlsuppa …“ Also genießen wir die Stille, die Anstrengung, den Ausblick. Wie queren wir den Bach am besten? Und zwar so, dass keiner in die dünne Schneedecke einbricht und vom gurgelnden Schmelzwasserstrom hinabgerissen wird? Wir nehmen Sicherheitsabstände ein, die Piepsgeräte zur Ortung von Lawinenverschütteten sind längst eingeschaltet, einer nach dem anderen tastet sich die paar kritischen Meter voran – geschafft! Der Wald wird lichter, die Schneedecke kompakter, die Luft einen Tick kühler: Jetzt sind wir im Flow, Skitourgehen als Meditation, nur das Krschschsch-Krschschsch-Krschschsch der Felle auf dem Schnee ist zu hören. Und mein Keuchen.
Es geht durch sanft kupiertes Gelände, den Weg zur Hütte ist länger keiner gegangen, wir suchen uns unsere eigene Spur, empor im Zick-Zack. Ein paar Schneehühner haben schon ihre dunklen Schwanzfedern in der Mauser abgelegt, Souvenirs für die Kinder! Eine Trinkpause – „wir wollen ja das Wasser nicht den Berg hinaufschleppen!“, mahnt Aki – und dann steht sie schon vor uns: die Hermann-von-Barth-Hütte, geschindelt und sonnengegerbt, bescheiden und doch schön, ein alpines Kleinod, auf 2131 Metern.
Kurze Rast, Ballast abwerfen. Und mal eben was trinken. Im Tal geht das ja so: Wasserhahn auf, Glas voll, Glas leer, Wasserhahn auf, Glas voll, Glas leer, Durst weg. Im Winterraum läuft das so: Holz suchen. Beil suchen. Holz hacken. Streichhölzer suchen. Zeitungspapier suchen. Ofen einschüren. Ofen nochmal einschüren. Ofen nochmal einschüren – Ofen heizt! Topf suchen. Mit Schnee füllen. Warten. Nochmal warten. Nochmal warten. Schnee geschmolzen, Glas voll, Glas leer – Schnee holen … Aki ist nicht nur Allgäuer, er hat in Kanada Bären erlegt, im Kongo Sprit für Uno-Flugzeuge aufgetrieben und ist durch die Straße von Gibraltar geschwommen, sprich: Ihm geht die Energie so schnell nicht aus. Also kümmert er sich um Holz, Ofen, Schnee, Wasser. Und ich kümmere mich um, äh: die Erholung. Genieße jeden Tropfen Wasser, als wären wir in der Wüste Gobi.
„Man soll nie mehr essen, als mit allerletzter Gewalt reingeht“
Großvater Thiele
Lebensweisheit eines Wahl-Allgäuers
Von Westen her ein warm-oranges Licht, es wird angenehm kühl – Zeit für eine kleine Feierabendtour. So steigen wir noch eine halbe Stunde auf, Richtung Hochvogel, dem höchsten der Allgäuer Hochalpen. Wir wollen ein paar Schwünge Skifahren und die weitere Route für morgen inspizieren. Die durchgeweichte Schneedecke hat sich schon wieder ein Stück weit verfestigt, auf einer Firnschicht wie Mascarpone auf einem Fruchtkuchen rauschen wir gen Tal. Jetzt geht die Sonne unter, jetzt ist es Zeit für das Kässpatzenmassaker.
„Viele fahren in die Dolomiten für solche Touren – wir haben sie vor der Haustüre“
Enkel Thiele
Erkenntnis eines gebürtigen Allgäuers
„Man soll nie mehr essen, als mit allerletzter Gewalt irgendwie dann doch noch reingeht“: Das war das Lebensmotto meines Großvaters. Ein Allgäuer auf dem zweiten Bildungsweg, quasi. Nach seinem Leitprinzip bereiten wir das Abendessen vor. Würschtl hier, Käse da, Chips und Nüsse dort: der Knabbergang. Limburger, Weißlacker, Romadur, Emmentaler, Bergkäse: Martin reißt eine Verpackung nach der nächsten auf, denn wenn drei Allgäuer Kässpätzle machen, wird geklotzt und nicht gekleckert. Ich heule mir beim Hacken der Berge von Zwiebeln schier die Augen aus dem Kopf – ‘s Läba isch koa Nudlsuppa!
Die erste Pfanne ist längst voll, die Spätzle schwimmen schon im Öl, das der Ofen aus dem Käse herausgeschmolzen hat, jetzt kommt die zweite Pfanne. „Boah, ist das viel! Schaffen wir das?“, fragt Martin. „Wir sind hier nicht zum Vergnügen“, antwortet Aki. Also machen wir uns an die Vernichtung dieser Berge von Spätzle. Eine Packung Tütenwein und ein Bier, das wir auch noch eingepackt haben, machen die Runde. Von den fünf Partien, die laut Hüttenbuch diesen Winter hier heroben waren, hat sich sicher keine auch nur annähernd so sattgefressen wie wir! Ein kurzer Verdauungs-Schafkopf. Ein letzter Wettercheck, Millionen von Sternen hängen über uns, die Nacht wird klar und kalt – perfekte Bedingungen für morgen. Also ab ins Bett.
Als der Wecker klingelt, ist es genauso dunkel. Und zehn Grad kälter. Den Ofen schüren wir jetzt nicht mehr ein, das dauert zu lange, aber wenigstens sind die Felle und die Skistiefel trocken geworden. Expressmüsli weggelöffelt, Hütte ausgefegt, Rucksack aufgesetzt, Lawinenpiepser gecheckt – und los! Mit unseren Stirnlampen leuchten wir wie Glühwürmchen in der Nacht. Wir wollen die Rinne ein paar Hundert Höhenmeter nordöstlich von uns aufsteigen und ins nächste Kar abfahren, das liegt ab den frühen Morgenstunden in praller Frühjahrssonne: Gefahr von Nasschneelawinen! Deshalb müssen wir in aller Früh und Kälte aufbrechen.
Steil und glatt ist der Weg durchs Wolfebnerkar, hinauf zur Scharte. Also legen wir Steigeisen und Pickel an, die Ski wandern an den Rucksack. Der alpine Mehrkämpfer in uns ist jetzt gefordert! Die Felszacken rechts und links von uns kommen näher, der Hang steilt weiter auf. Schön sorgfältig die Zacken der Steigeisen in die gefrorene Schneedecke rammen und ja nicht ins Hosenbein. Wer ausrutscht, liegt schnell ein paar Hundert Höhenmeter weiter bergab, also: Kon! Zen! Tra! Tion! „Wahnsinn, viele fahren in die Dolomiten oder nach Chamonix für solche Touren – wir haben sie vor der Haustüre“, sage ich zu Aki. Und stapfe – Krtsch, Krtsch, Krtsch – wieder ein paar Schritte weiter hinauf. Die Konzentration, die Kraft und bald schon die ersten Strahlen der Sonne: Wir stehen in unserem eigenen Schweiß. Aber eine Trinkpause, Rucksack absetzen, Flasche rauskramen – das geht jetzt gerade nicht, dazu ist die Eisrinne zu heikel. Also durchbeißen, bis zur Scharte. Wir wechseln uns in der Führung ab, die erste Spur ist die schwerste. Und Zeit haben wir keine zu verschenken.
Kurz Durchschnaufen. Kurz den großen Schluck herbeiphantasieren, der oben auf uns wartet. Und nochmal hinaufackern, die letzten Höhenmeter: Dann ist es geschafft, die Schlüsselstelle unserer Tour ist überwunden, wir sind vollzählig und heil in der Scharte angekommen. Jetzt was trinken! Noch einmal den Blick genießen: Ist das da im Nordosten die Zugspitze? Weiter südlich die Stubaier, dann die Ötztaler, das Ortler-Massiv im Dunst eher zu erahnen als zu sehen, aber die Valluga und die Parseierspitze, ganz weit hinten im Lechtal Richtung Arlberg, die kann ich ausmachen. Schluss, aus, Amen – dafür ist keine Zeit mehr, und für den Aufstieg auf die Plattenspitze erst recht nicht: Die Luft ist feucht, die Sonne brennt, wir müssen den Lawinen davonfahren. Ab in die Bindung, ab ins Balschtekar.
„Hoschd a Hira, findsch da Fira“, ruft Aki. Ein Allgäuer Skitourengeherklassiker: Mit Hirn finden wir den Firn. Jene ein, zwei Zentimeter aufgeschmolzene Schicht auf harter Unterlage, auf wir hinabgleiten wollen, der heilige Gral des Skitourengehers. Wo steht jetzt die Sonne? Wie steil ist der Hang? Wie hoch sind wir gerade? Wer die Linie zu weit links wählt, kratzt über pickelhartes Eis – wer zu weit rechts fährt, steht im durchgeweichten Sumpfschnee. Jeder von uns dreien hat mal wieder drei Schwünge Glück, und dann muss er wieder suchen. Glücksspiel im Spätwinter!
Noch einmal den Blick über die Lechtaler genießen. Noch ein paar letzte anständige Schwünge in den Schnee pflügen! Noch einmal kurz den Atem anhalten und sauber über den Bach kommen, nicht mit den Skispitzen in den Latschen hängenbleiben – dann ist es geschafft. Die dampfenden Skistiefel ausziehen, Turnschuhe an, Ski an den Rucksack – jetzt ist nur noch der lange Weg ins Tal zu marschieren. Der Muskelkater läßt schon grüßen. Aber das Leben ist halt keine Nudelsuppe.