Durch Einwanderer aus dem Wallis formte sich in den Tälern rund um Davos und Klosters einst ein mehrsprachiges Nebeneinander alpiner Lebensweisen. Bis heute lassen sich die Spuren ihrer einzigartigen bergbäuerlichen Kultur entdecken
Im Schweizer Kanton Graubünden führen viele Wege zur perfekten Postkartenidylle. Einer davon ist der Postbus 310 ab Davos Glaris, der sich an einem Sommermorgen mit nur wenigen Fahrgästen an Bord die steile Straße nach Monstein hinaufschiebt. In dem auf 1620 Höhenmetern gelegenen Dorf angekommen, wird der Chauffeur mit einem freundlichen „Merci“ verabschiedet, bevor sich beim Aussteigen zeigt, dass Dankbarkeit tatsächlich genau das ist, was angebracht scheint – für dieses Licht, diese Luft, diese Landschaft, die sich da nach kurzer Fahrt bergan vor uns auftut. Während das Postauto sein Heck bei der Wende gefährlich weit über die Betonkante in Richtung des Steilhangs schiebt, gleitet der Blick den Abhang hinunter zu einer bewaldeten Schlucht, hinter der in der Ferne Gletscher aufragen. Auf der anderen Seite, hangaufwärts, sind die in charakteristischer Rundholzarchitektur erbauten Bauernhäuser auf die Wiesen getupft.
Auf der Sonnenterrasse unterhalb des Älplihorns machen die teils jahrhundertealten Häuser mit den sonnenverbrannten Holzfassaden das Dorf zu einem lohnenden Fotomotiv. Doch Monstein bietet mehr als malerische Ansichten – seine Gründung ist mit einem der spannendsten Kapitel regionaler Geschichte verwoben, das mit einer Wanderbewegung im Hochmittelalter begann. Um 1300 herum tauchten erstmals deutschsprachige Menschen in verschiedenen Tälern um Davos und Klosters auf, die bis dahin nur romanisch besiedelt waren. Die Einwanderer kamen aus dem Wallis, hatten ihre Siedlungsgebiete dort verlassen und sich zu Fuß auf den beschwerlichen Weg über Berg und Tal gemacht, der sie schließlich ins Bündnerland führte. Doch die besten Lagen dort waren bereits besetzt: romanische Bauern siedelten dort. So blieb den Neuankömmlingen nichts anderes übrig, als sich auf die unwirtlichen Lagen in der Höhe zurückzuziehen, die ihnen die adeligen Lehnsherren zugewiesen hatten.
Die Walser, wie man die Einwanderer ihrer Herkunft aus dem Wallis halber nannte, gründeten in der Region mehrere Siedlungen, eines davon das besagte Monstein. Zoomt man sich aus dem Dorf hinaus und betrachtet die Walsersiedlungen auf einer Karte Graubündens, ergibt sich ein Bild, das an Flickwerk erinnert. Verstreut ziehen sich ihre Gebiete durch beinah den gesamten westlichen Teil des Bündnerlands, dazwischen liegen helle Flecken, welche die bis heute überwiegend romanisch geprägten Gegenden anzeigen. Um die kulturelle Landschaft des Kantons heute zu verstehen, muss man die Kultur der Walser verstehen, und die Art und Weise, wie ihre Ankunft die Region veränderte: Sie brachten nicht nur den alemannischen Dialekt mit, sondern entwickelten als Bergbauern auch eine Lebensform, die auf den steilen Wiesen oberhalb der Siedlungen ihr Überleben sicherte. So entstand über die Jahrhunderte ein mehrsprachiges Nebeneinander alpiner Lebensweisen, Traditionen und Gebräuche, das sich noch heute lohnt, entdeckt zu werden.
Um sich auf die Spuren der Walser zu begeben, passt man sich am besten den alten bergbäuerlichen Rhythmen an und geht zu Fuß. Als einfacher und familienfreundlicher Einstieg eignet sich der „Gadäwäg“, der an der alten Walsersiedlung Monbiel beginnt und entlang des Sonnenbergs durch das Prättigau führt. Gadä ist die Dialektbezeichnung für die alten Holzställe, die als bauliche Überbleibsel der Walserkultur bis heute über die blühenden Wiesen verstreut sind. In fünf von ihnen sind Installationen untergebracht, die entlang des Wegs dazu einladen, Vergangenheit und Gegenwart der Berglandwirtschaft zu entdecken. Auf der etwa einstündigen Wanderung nach Klosters begleiten uns Thomas Gadmer, Geschäftsführer der Walservereinigung Graubünden, und der Geschichts- und Kulturwissenschaftler Christoph Luzi.
Während wir den weiten Blick in die Landschaft genießen, der vom höchsten Punkt des Tals aus bis zum Silvrettagletscher reicht, erzählt der aus Klosters stammende Historiker, was es mit den verstreuten Ställen, den Gadä, auf sich hat. Weil die Magerwiesen rund um die Höfe das Jahr über nicht genügend Futter für das Vieh hergaben, bildeten die Walser eine Art Stufenwirtschaft aus: „Man hat nicht das Futter zum Vieh gebracht“, erklärt Luzi, „sondern ging mit dem Vieh dem Futter nach.“ Im Einklang mit dem Jahreskreislauf zogen die Bergbauern mit ihrem Vieh schrittweise in immer höhere Lagen, um sich neue Weidegründe zu erschließen. Im späten Frühjahr kamen die Tiere zunächst in die Maiensässe oder Vorsömmerung – Stallungen, die etwas erhöht lagen und deren umliegende Wiesen frisch geheut werden konnten. Den Sommer verbrachten die Kühe auf der Alp, im Herbst ging es für einige Wochen wieder hinunter in die Vorwinterung. Im Winter wurde das unterm Jahr gemachte Heu mit Schlitten zum Heimstall transportiert.
Das Erbe dieser nomadischen Art des Wirtschaftens zeigt sich heute noch in der Landschaft – und hebt sich deutlich von romanisch geprägten Regionen Graubündens wie etwa dem Engadin ab. Dort bildeten sich um einen Dorfkern herum geschlossene Siedlungen. Die Walser hingegen errichteten ihre Höfe und Stallungen weit über die Wiesen versprengt in Streusiedlungen – „kleine Punkte auf einer Landkarte, wie mit dem Pfefferstreuer verteilt“, so Luzi. Dadurch konnte zwischen die Höfe mehr Weideland gebracht werden. Und während die Häuser im Engadin traditionell aus Stein errichtet wurden, bestehen die Walserhäuser aus Holz. „Holz ist überhaupt der Werkstoff schlechthin gewesen“, ergänzt Thomas Gadmer von der Walservereinigung. Die überwiegend armen Familien konnten es selbst im Wald schlagen. Die Balken wurden übereinandergeschichtet und im sogenannten Gwätt in Strickbauweise seitlich miteinander verkantet.
Aus Holz fertigten die Walser auch Werkzeug und Alltagsgegenstände wie Löffel, Geschirr oder die Schulranzen der Kinder. Im Sertig, einem Seitental bei Davos, hat sich im 19. Jahrhundert sogar eine Uhrmachertradition entwickelt, die filigrane hölzerne Zahnräder herzustellen wusste. Wie die Walser aus regionalen Ressourcen eine reiche und nachhaltige Alltagskultur erschufen, lässt sich im Nutli Hüschi in Klosters erleben, einem Walserhaus aus dem Jahr 1565, das heute als Museum dient. Von Leinenhemden über Kinderspielzeug bis hin zu Waschbrettern und Kartoffelstampfern: In den historisch möblierten Räumen des Hüschi, der Prättigauer Dialektbezeichnung für ein kleines Haus, erzählen zahlreiche, im Original erhaltene Gegenstände von der Einfachheit eines Lebens in abgelegenen Regionen ohne fließendes Wasser und Elektrizität – und von der Zähigkeit und dem Erfindungsreichtum, die dazu nötig waren, es zu bewältigen.
Die Exponate des Museums sind die stummen Überreste einer Lebensform, die spätestens zur Mitte des 20. Jahrhunderts fast so plötzlich verschwand, wie sie einst im Hochmittelalter in die Region gekommen war. Schuld war der technische Fortschritt. „Die Motorisierung – Motorsägen, Traktoren, Mähmaschinen – hat die Landwirtschaft revolutioniert“, erklärt Gadmer den rasanten Wandel, der sich damals auch im Bündnerland vollzog. Flächen konnten leichter und ertragreicher bewirtschaftet werden. Zudem veränderte der aufkommende alpine Tourismus die Region, viele Bauern wanderten ab oder suchten neue Verdienstmöglichkeiten abseits der Viehwirtschaft. Als das moderne Leben selbst in die abgelegensten Täler Einzug gehalten hatte, geschah noch etwas: „Es entstand ein Bewusstsein dafür, dass da gerade eine Kultur verloren geht“, erklärt Gadmer.
Erst als ihre jahrhundertealten Traditionen und Fertigkeiten davon bedroht waren, vergessen zu werden, formte sich eine historische Perspektive auf die Walserkultur. Das führte 1960 zur Gründung der Walservereinigung Graubünden, deren Geschäftsführer Gadmer heute ist. „Erhalten, Bewahren, Dokumentieren“, fasst er den Zweck der Vereinigung zusammen, die alsbald Heimatmuseen gründete, Bildungsformate schuf und Forschungen zu den Mundarten der Walser förderte. Dadurch wurde die Geschichte der Walser im Kanton erstmals als identitätsstiftend wahrgenommen: „Wir haben uns selbst entdeckt“, erzählt Gadmer mit einem Augenzwinkern. Wichtig ist ihm, dass es dabei nicht um Fragen der Abstammung oder der Zugehörigkeit zu einer Ethnie geht, sondern darum, die alpine walserische Kultur zu bewahren und sie durch kulturelle Angebote lebendig zu halten.
Über die Dialektverwandtschaft konnte die Herkunft der Walser aus dem Wallis schließlich auch zweifelsfrei nachgewiesen werden. Warum die Einwanderer im Mittelalter ihre Siedlungen dort verließen und nach Nordosten zogen, ist hingegen nach wie vor ungeklärt. War es eine Naturkatastrophe? Eine Hungersnot? Oder der Drang einiger, ihr Leben in der Fremde zu verbessern? Als Ausgleich für die schlechten Siedlungsgebiete trotzten die Walser den Lehnsherrn im Bündnerland geschickt zahlreiche Rechte ab, etwa die Duldung der Jagd und eine eigene Gerichtsbarkeit. Das jahrhundertealte Erfolgsgeheimnis der Walser liegt wohl vor allem in ihrer Fähigkeit begründet, sich auch an widrigste Bedingungen anzupassen. Wer die idyllische Landschaft rund um Davos und Klosters betrachtet, kann dieses Vermächtnis bis heute sehen.
Unterkunft
Das Traditionshotel Wynegg in Klosters bietet 15 Zimmer mit rustikalem Charme sowie eine hervorragende Küche mit Spezialitäten aus der Region. www.wynegg.ch
Wer mehr Naturnähe und Abgeschiedenheit sucht, sollte sich im Walserdorf Monstein im Hotel Ducan einquartieren. Die renovierten Doppelzimmer wurden mit Holz und Naturstein-Elementen ausgestattet und bieten eine spektakuläre Aussicht ins Tal. www.hotel-ducan.ch
Anreise
Um die Spuren der Walser um Davos und Klosters herum zu erkunden, eignen sich beide Orte gleichermaßen als Ausgangspunkt. Zwischen Davos und Klosters verkehrt ein Direktzug der Rhätischen Bahn, die Fahrt dauert etwa 25 Minuten. Fahrplan unter www.sbb.ch
Von Davos aus erreicht man das Walserdorf Monstein stündlich mit dem Postauto, umsteigen in Davos Glaris. Fahrplan unter www.postauto.ch
Die alte Walsersiedlung Monbiel ist eine der acht Fraktionen (Ortsteile) von Klosters und liegt zuhinterst im Prättigau. Sie ist mit dem Ortsbus Klosters zu erreichen. Fahrplan unter invia.ch
Wandern auf den Spuren der Walser
Der Gadäwäg von Monbiel nach Klosters ist auch mit Kindern gut zu bewältigen und bietet fünf interaktive Stationen, die sich der Vieh- und Berglandwirtschaft ebenso widmen wie etwa der Sagenwelt der Walser. Der Gadäwäg ist eine der insgesamt sieben Etappen des Wildmännli-Wegs in und um Klosters. Informationen und Routen unter www.klosters.ch/wildmaennliweg
Wer den Fokus weiten und auf den Spuren der Walser weitwandern möchte, kann sich an die 23 Etappen des Walserwegs Graubünden halten, die vom Hinterrhein in den Rätikon führen. Entlang der Bündner Walserregionen bieten sie die Möglichkeit, die Walserkultur über räumliche und sprachliche Grenzen hinweg zu erleben. Informationen und Etappen unter www.walserweg.ch