Am bayerischen Alpenrand rettet ein 57-köpfiges Team der Bergwacht Hausham am Sudelfeld Skifahrer, Wanderer und Spaziergänger. Eine Geschichte über nebelige Wochenenden auf der Berghütte, verpasste Mittagessen und den ehrenamtlichen Einsatz für andere
Auf der Speck-Alm zur Mittagszeit im Sudelfeld. Skifahrer staksen mit ihren Stiefeln durch die Hütte, eine Bedienung balanciert Kässpätzle in gusseisernen Pfannen durch den Gastraum. „Die sind Weltklasse hier“, sagt Corinna von Hören. Sie hat gleich vier Portionen für sich und ihre Kollegen bestellt. Zum Essen kommen sie nicht. Über eines der Funkgeräte auf dem Holztisch geht ein Notruf bei den Haushamer Bergrettern ein.
Robert Weissacher ist an diesem Wochenende Gruppenführer der Bergwacht im Skigebiet und wird per Digitalfunk zu einem Einsatz gerufen. Er hält das Funkgerät dicht ans Ohr, um trotz des Hüttentrubels alles zu verstehen. 57 Jahre alte Frau, Knieverletzung. Mehr erfährt er zunächst nicht. Schnell schickt er zwei Kollegen mit dem Akia – dem Schlitten, mit dem im Notfall Verletzte transportiert werden – an die Unfallstelle. Beide trinken beim Aufstehen noch schnell einen Schluck Spezi und steigen dann in ihre Skier. Zehn Minuten später erhält Weissacher weitere Informationen über Funk: Ansprechbar … Knie verdreht. Wir bringen sie runter. Ehemann ist dabei.
„Skifahrer überschätzen sich. Sie verlieren in der Dämmerung die Orientierung. Dann ist unser Einsatz gefragt“
Um die Verletzte sicher ins Tal zu bringen, packen die Bergretter ihr Bein in eine leuchtend blaue Vakuumschiene; so bewegt sich ihr Knie keinen Millimeter. Dann wird die Frau in eine Art Schlafsack gelegt, der auf dem Akia befestigt ist. Bei dem Gedanken, gleich mit dem Kopf voran ins Tal gebracht zu werden, fühlt sich die Patientin sichtlich unwohl. Dabei hat das Kopfvorausfahren zwei Vorteile: Der hintere Akiafahrer hat den Verletzten stets im Blick und kann eingreifen, falls dieser bewusstlos wird. Außerdem könnte dem Patienten bei der Fahrt und mit dem Blick ins Tal leicht schlecht werden.
Als die Verletzte festgeschnallt im Akia liegt, steuern die Bergretter den Akia am Rand der Pisten ins Tal. Auf einem flachen Hang muss der Akia dazu angehoben werden, er würde sonst zu stark bremsen – mit Passagier kann der Schlitten weit über 100 Kilo wiegen. „Wenn’s steil ist, ist es ein bisschen wie bei MacGyver. Wir müssen einfach improvisieren. Aber wir kommen jeden Berg sicher runter“, sagt Peter Skarp, der seit fünf Jahren bei der Bergwacht Hausham ist. Obwohl der Nebel so dicht ist, dass man die eigene Hand vor Augen kaum erkennt, bringen Peter Skarp und sein Kollege Roland Lange die Frau sicher ins Tal. „Wir sind ja keine Schönwetter-Skiwachtler“, sagt Lange. Jedes Wochenende und an Feiertagen ist die Bergwacht im Einsatz. Je nach Dienstplan bedeutet das für die freiwilligen Retter, dass sie alle drei bis fünf Wochen ihr Wochenende auf der Diensthütte verbringen. Bei schönem Wetter fahren sie selbst Ski und genießen die Pisten, bei schlechtem Wetter wird in der Hütte gestrickt, Karten gespielt oder gelesen. Bis ein Notruf eingeht. Dann werden die Filzpantoffeln gegen Skistiefel eingetauscht und der Rucksack aufgeschnallt, der jeden Morgen bei Dienstantritt überprüft wird – das Blutdruckmessgerät, eine Wärmedecke und Verbandszeug dürfen nie fehlen.
Die Patientin mit der Knieverletzung wird vom Parkplatz aus im eigenen Auto von ihrem Mann zum Krankenhaus gefahren. Die Schiene behält sie an. „Wir sind so gut vernetzt hier, das Teil bringt uns schon irgendwer aus dem Krankenhaus zurück“, sagt Robert Weissacher, der als IT-Projektleiter arbeitet, wenn er nicht als Bergretter unterwegs ist.
Der Akia mit den Metallkufen kommt im Winter bei der Haushamer Bergwacht jedes Wochenende mehrmals zum Einsatz. Wo Skier, Akia und andere Schneemobile nicht mehr ausreichen, wird seit vier Jahren ein neues Gefährt verwendet, das LKLD1- Technikfahrzeug (Lokalisation, Kommunikation Lagedarstellung und Dokumentation). „Mein Fliewatüüt“, nennt es der Bergretter Lorenz Brandhofer. Der umgebaute VW-Bus sieht aus, als habe sich ein geheimdienstlicher Tüftler darin verwirklicht: unterschiedlich große Antennen auf dem Dach, mehrere Funkgeräte, Telefone und Monitore im Inneren. „Ich habe hier bestimmt 1500 Stunden Arbeit reingesteckt“, sagt Brandhofer, der von seinen Freunden „Lenz“ genannt wird. Seine Bergwacht-Kumpels nicken. Man sieht ihnen an, wie stolz sie sind. Auf ihre Arbeit und auf ihren Kumpel Lenz.
Das Fliewatüüt ist eines von sechs Technikfahrzeugen, die in Bayern bei großen und langwierigen Rettungsaktionen verwendet werden. Eine 14-köpfige Gruppe der Bergwacht hat sich zur Aufgabe gemacht, die Kommunikation und Koordination bei solchen Einsätzen zu verbessern. So etwa beim ersten Einsatz des Teams, bei der Bergung des Höhlenforschers Westhauser, der in der Riesending-Schachthöhle in den Berchtesgadener Alpen verunglückt war. Weil dort mehrere Rettungsteams beteiligt waren, musste die Aktion besonders sorgfältig koordiniert werden.
37-mal musste das Technikteam seit seinem Bestehen ausrücken, meistens nachts. Zur Ausstattung des Fahrzeugs gehören deshalb auch ein Teleskop und Drohnen mit Nachtsichtgeräten. „Skifahrer oder Wanderer überschätzen sich. Sie verlieren in der Dämmerung die Orientierung und kommen nicht mehr nach Hause. Dann ist unser Einsatz gefragt“, sagt Martin Riedl, er und Lenz sind von Anfang an mit Leidenschaft dabei.
„Wenn´s steil ist, ist das Abfahren mit dem Akia ein bisschen wie bei MacGyver“
Mit ebenso großer Leidenschaft ist auch Gernot Kammerer bei der Bergwacht – gemeinsam mit seinem Lawinenhund Xaver. „Der Xaver is’ a oberbayerischer Hund. Da heißt ma’ so“, stellt Kammerer seinen Labrador vor, der ihn auf dem Schoß im Sessellift begleitet. Seit sechs Jahren sind Kammerer und Xaver zusammen im Einsatz, um verunglückte Tourengeher zu retten. „Gott sei Dank müssen wir nicht oft ausrücken“, sagt der Hundeführer. „Aber geübt wird regelmäßig.“ Im Winter kommt er dazu alle 14 Tage mit dem Hund auf den Berg. Xaver wurde vier Jahre lang zu einem Flächensuchhund ausgebildet. Wie ein Jagdhund, der sein Revier nach bestimmten Gerüchen absucht, identifiziert der Lawinenhund auf weiter Fläche die Stelle, die besonders intensiv nach Mensch riecht. Sobald er einen Verschütteten ausgemacht hat, gräbt sich der Hund zu ihm hindurch und legt sich Schnauze an Gesicht dazu. Dem Verunglückten hilft er so in dieser Situation doppelt: Zum einen wärmt er den Körper. Zum anderen gibt er ihm das Gefühl von Geborgenheit und nahender Rettung.
Anders als Polizeihunde, die darüber hinaus lernen müssen, Drogen oder Sprengstoff zu finden, haben Lawinenhunde keine zusätzliche Ausbildung. „Der Xaver ist deswegen sehr sozialverträglich“, erklärt Kammerer. Und so sitzt Xaver auch beim Mittagessen auf der Speck-Alm munter mit dem Schwanz wedelnd unter dem Tisch. Überall, wo es nach Kässpätzle duftet, guckt er neugierig hervor.
Das 57-köpfige Team der Bergwacht Hausham ist ehrenamtlich tätig. Statt ihre Wochenenden gemütlich zu Hause zu verbringen, sind die Männer und Frauen abwechselnd im Dienst und retten Skifahrer, Bergsteiger, Mountainbiker und Wanderer. Das schweißt zusammen. „Wir sind mittlerweile enge Freunde geworden“, sagt Robert Weissacher, der seit 21 Jahren bei den Bergrettern ist.
„Gott sei Dank müssen wir nicht oft ausrücken … aber geübt wird alle 14 Tage“
„Der Hauptgrund für mich, zur Bergwacht zu gehen, war das Interesse an der medizinischen Versorgung“, erzählt er und fügt hinzu: „Und das Heli-Fliegen.“ Denn das ist Teil der Bergwachtausbildung. Nicht das Steuern des Helikopters, aber das Mitfliegen und der sichere Patiententransport. Auf dem Plan der zweijährigen Ausbildung stehen außerdem Naturschutz-, Schnee- und Lawinenkunde, Klettern und die medizinische Ausbildung.
Corinna von Hören steckt noch mitten in der Ausbildung. An dem Samstag, als sie für die ganze Truppe auf der Speck-Alm Kässpätzle bestellt, hat sie erst das zweite Mal Dienst auf der Hütte. Aber das merkt niemand. Auch dass sie erst mit 15 Jahren nach Bayern gezogen ist und das Skifahren gelernt hat, mag man zunächst nicht glauben. Zielsicher fährt die 28-Jährige mit ihren Kollegen die Pisten hinunter. Und scherzt mit ihnen beim Mittagessen in feinstem bayerischen Dialekt.
Die Diensthütte der Haushamer Bergwacht im Skigebiet Sudelfeld ist für die ehrenamtlichen Retter längst zu einem zweiten Zuhause geworden. Auch Corinna von Hören fühlt sich schon nach kurzer Zeit im Team sichtlich wohl. Nach Dienstende tauscht sie ihre Skistiefel gegen graue Filzpantoffeln. In der Diensthütte, in der morgens ein Kollege Feuer im Kaminofen gemacht hat, ist es mittlerweile wohnzimmerlich warm. Gemütlich lässt das Rettungsteam den Einsatztag ausklingen. Dass mittags die Spätzle ausfallen mussten – geschenkt.