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Das Glück liegt in der Wiese

Streuobstwiesen sind nicht nur landschaftsprägend, sie gelten als Hotspots der Artenvielfalt.

Streuobstwiesen sind nicht nur landschaftsprägend, sie gelten als Hotspots der Artenvielfalt. © Fotos: Stefan Braun

Streuobstwiesen sind wertvolle Refugien für viele Tier- und Pflanzenarten und die Heimat uralter Obstsorten. Zwei Experten engagieren sich im oberbayerischen Voralpenland und in der Bodenseeregion für ihren Erhalt

Adersleber Kalvill, Herzogin Olga und Morgenduft, Gute Luise, Mollebusch und Triumph aus Vienne – im Supermarkt sucht man solche alten Apfel- und Birnensorten vergeblich. Sie gedeihen nicht als Massenware in Reih und Glied auf Plantagen, sondern in kleiner Zahl auf Streuobstwiesen. Diese idyllischen Obstwiesen mit ihren weit auseinanderstehenden hochstämmigen Bäumen – deren Krone erst auf einer Höhe von circa 1,80 Metern beginnt – prägen seit Jahrhunderten das Bild im ländlichen Bayern. Bis in die 1950er-Jahre hatten sie große Bedeutung für die Selbstversorgung der Bevölkerung. Die geernteten Äpfel, Birnen, Kirschen, Quitten und Pflaumen kamen als Tafelobst, aber auch Saft, Most, Brand oder Dörrobst auf den Tisch. Entsprechend groß war die Zahl an Sorten, die von den Landwirten kultiviert wurden.

Streuobstwiesen sind wertvolle Refugien für viele Tier- und Pflanzenarten

Streuobstwiesen sind wertvolle Refugien für viele Tier- und Pflanzenarten

Doch nicht nur die Vielfalt an alten Sorten macht Streuobstwiesen zu einem wertvollen und schützenswerten Naturschatz, sie sind auch echte Hotspots der Artenvielfalt: Die höhlen- und totholzreichen Altbäume dienen über 5000 Tier- und Pflanzenarten als Lebensraum. Damit zählen die oberbayerischen Streuobstwiesen zu den artenreichsten Lebensräumen Mitteleuropas – noch. Denn der bayerische Streuobstbaumbestand ist stark dezimiert. Das liegt zum einen an der mangelnden Wirtschaftlichkeit und dem seit Mitte des letzten Jahrhunderts veränderten Verbraucherverhalten. Zum anderen machen sich die Globalisierung und die Auswirkungen des Klimawandels zunehmend bemerkbar.

Höchste Zeit also, gegenzusteuern. Die bayerische Staatsregierung hat das Thema Streuobstwiesen auf ihre Agenda gesetzt und sich im Rahmen des sogenannten Streuobstpakts unter anderem das ambitionierte Ziel gesetzt, bis 2035 eine Million zusätzliche Streuobstbäume im Freistaat zu pflanzen. Bei ihrem Vorhaben, dieses kostbare Natur- und Kulturerbe zu retten und lebendig zu halten, wird sie von zahlreichen engagierten Expertinnen und Experten unterstützt. Zwei von ihnen sind die Agrarwissenschaftlerin Leonie Funke und der Forst- und Holzwissenschaftler Georg Loferer.

Pomologe Georg Loferer begleitet im Auftrag der Regierung von Oberbayern das Projekt „Apfel-Birne-Berge“ in Rosenheim. Leonie Funke ist als Streuobstberaterin im Landkreis Lindau für die hochstämmigen Obstbäume im Einsatz.

Der aus Rohrdorf stammende Loferer half schon als Kind seinem Onkel bei der Obsternte, bewirtschaftet selbst eine große Streuobstwiese und hat es sich zur Aufgabe gemacht, alten Sorten eine Zukunft zu geben. „Leider sind mit dem Verlust der Streuobstwiesen und der Aufgabe der sorgsamen Pflege die vielen alten regionalen Obstsorten und das Wissen darum verloren gegangen“, erzählt der Pomologe. Dagegen wollte er etwas unternehmen. Zwischen 2015 und 2018 suchte er im Auftrag der Regierung von Oberbayern in sechs Landkreisen entlang der Alpenkette seltene Apfel- und Birnensorten. Dabei fand er Hunderte Bäume, die selbst von führenden deutschen Sortenkundlern nicht bestimmt werden konnten. „Es ist erstaunlich, wie viele Sorten es eigentlich gibt. Teilweise sind sie im wahrsten Sinne des Wortes namenlos, denn oft wurde das Sortenwissen nur mündlich weitergegeben, und durch den Bedeutungsverlust des Streuobstes nach dem 2. Weltkrieg nahmen viele Menschen ihr Wissen mit ins Grab“, berichtet Loferer. So stand er immer wieder vor mächtigen alten Bäumen, ohne irgendeine Information darüber zu haben.

In Rosenheim zieht der Streuobst-Experte nun seit fünf Jahren im Rahmen des Biodiversitätsprojektes „Apfel-Birne-Berge“ gemeinsam mit anderen Fachleuten 270 seltene oder unbekannte beziehungsweise vergessene Sorten nach, die anschließend in öffentlich zugänglichen Schaugärten gepflanzt werden. Bei dem Projekt, das in diesem Jahr abgeschlossen wird, führten Loferer und seine Kollegen häufig einen Kampf gegen die Zeit. Denn von den in Vergessenheit geratenen Apfel- oder Birnensorten gab es oft nur noch wenige und meist sehr alte Bäume. Damit sie nicht endgültig verschwinden, mussten sie mit einem speziellen, „Kopulation“ genannten Verfahren so schnell wie möglich vermehrt werden. „Das alles kostet zwar viel Zeit und Mühe, aber es geht schließlich darum, den genetischen Schatz langfristig zu erhalten und jene Perlen zu finden, mit denen man die Streuobstwiesen der Zukunft begründen kann“, erklärt Georg Loferer.

Mit Nostalgie hat seine Arbeit also nichts zu tun, und auch der besonders gute Geschmack alter Obstsorten steht für den Pomologen nicht im Vordergrund: „Wichtig ist vor allem, dass die alten Sorten einen breiten Pool an Genreserven bieten, der bedroht ist, aber in Zeiten des Klimawandels und neuartiger Krankheiten enorme Chancen bietet. Unsere Aufgabe ist es einerseits, diese Vielfalt langfristig zu sichern, und andererseits, jene Sorten zu identifizieren, die sich aufgrund ihrer Wuchskraft, Robustheit und Ertragshöhe besonders gut für den Streuobstanbau auf Hochstämmen eignen.“

Apfel. Kirsche. Quitte.

Damit spielt er Streuobstberaterin Leonie Funke in die Hände, die sich wie er dem Erhalt der Streuobstwiesen und deren zukunftsfähigen wirtschaftlichen Nutzung verschrieben hat. „Ich möchte Menschen für das Gesamtprojekt ,Streuobst‘ begeistern“, formuliert die Allgäuerin, deren Beruf im Zuge des Bayerischen Streuobstpakts eigens geschaffen wurde, ihren Auftrag an sich selbst. Im Landkreis Lindau berät und unterstützt sie Projektträger, Gemeinden, Verbände und Landwirte und steht auch bei Artenhilfsprojekten mit Rat und Tat zur Seite. Ihr erklärtes Ziel: eine nachhaltig attraktive Gestaltung des Streuobstanbaus. „Wichtig ist, dass wir die Leidenschaft bei den Menschen für den Anbau und auch für die Weiterverarbeitung wecken“, beschreibt Funke ihre Mission. „Nur so werden neue Bestände gepflanzt, wertvolle Altbestände wieder gepflegt, der regionale Saft, das Obst und andere Produkte wieder von unseren Landwirtschaftsbetrieben erzeugt und von den Konsumenten gekauft.“ Hier liegt für die studierte Agrarwissenschaftlerin auch eine zusätzliche Chance in Sachen ökologische Nachhaltigkeit: „Streuobst birgt eine große Vielzahl an Produkten, die man wunderbar regional beziehen kann und die somit durch die kurzen Transportwegen auch gut fürs Klima sind.“ Man merkt Leonie Funke die Begeisterung für ihre abwechslungsreiche Arbeit an. „Mir macht es viel Freude, mit und in der Natur und gemeinsam mit den Menschen zu arbeiten, die in der Landschaft und Landbewirtschaftung auf so vielfältige Weise tätig sind“, schwärmt sie. Mal unterstützt sie die jährlichen Pflegemaßnahmen und Neupflanzungen des Landschaftspflegeverbands, dann wieder Saft-Projekte des Bund Naturschutz mit den Lindauer Fruchtsäften oder verschiedene Tätigkeiten und Aktionen der Gemeinden. Ein Thema liegt ihr dabei besonders am Herzen: „Sehr wichtig ist ein fachgerechter Pflegeschnitt der hochstämmigen Obstbäume. Aber leider sind viele Flächen in schlechtem Pflegezustand, deshalb biete ich dazu Schnittkurse an“, sagt die ausgebildete Baumwartin für naturgemäßen Obstbaumschnitt.

Streuobstwiesen dienen vor allem vielen verschiedenen Tieren und Pflanzen als Lebensraum.

Streuobstwiesen dienen vor allem vielen verschiedenen Tieren und Pflanzen als Lebensraum.

Hat sie eigentlich einen Liebling unter den vielen verschiedenen Bäumen? „Insgeheim schlägt mein Herz für die großen Mostbirnen“, verrät Funke. „Ich finde, sie sind irgendwie die Königinnen der Obstbäume und gehören zu unserem Landschaftsbild am Bodensee und im Allgäu einfach dazu!“ Und auch unter den Produkten aus heimischem Obst gibt es einen klaren Favoriten: „Für mich ist selbst gemachtes Apfelmus einfach ein Klassiker. Toll ist, dass auch die Früchte verwertet werden, die äußerlich nicht ganz so makellos sind, wie wir es aus dem Supermarkt kennen. Braune Stellen sind keine Ausschlusskriterien – einfach wegschneiden und fertig. Dann noch Birnen dazu, und so wandern jedes Jahr einige Gläser ins Vorratsregal“, erzählt die Streuobstberaterin und strahlt.