Hans Kammerlander erklomm die höchsten Gipfel der Welt. Ausgerechnet im Straßenverkehr beging der Extrembergsteiger den größten Fehler seines Lebens. Trotzdem hat der Südtiroler seinen Lebensmut nicht verloren und greift noch einmal an
Hans Kammerlander wohnt noch immer dort, wo vor mehr als 50 Jahren alles angefangen hat. Hinter seinem Haus, dessen Bauweise viel über seine Liebe zu Tibet erzählt, ragt der Moosstock auf. Den 3059 Meter hohen Hausberg des kleinen Südtiroler Ortes Ahornach bestieg er zum ersten Mal mit acht Jahren. Heimlich. Er war zwei Touristen bis zum Gipfel hinterhergeschlichen. Seine Ausrüstung war so dürr wie seine Beine. Sie trugen ihn sicher nach oben. Während er unter dem Gipfelkreuz einen Apfel aß, spürte der Bergbauernbub, dass ganz oben in den Bergen, wenn es nicht mehr weiter hinaufgeht, alles anders schmecken kann.
Hans Kammerlander, eine Karriere in Bildern. Dutzende Erstbegehungen und 2500 Touren in den Dolomiten gehen auf sein Konto. Mit Reinhold Messner umrundet er 1991 Südtirol. Während die beiden merh als 100.000 Höhenmeter zurücklegen und über 300 Gipfel steigen, kommen sie bei der Gletschermumie Ötzi vorbei, die kurz zuvor am Tisenjoch entdeckt worden ist. Und dann natürlich die größten Berge der Welt. Viele besteigt er mit Messner, seinem Lehrmeister, der den Jüngeren in seinem Tatendrang mehr als einmal einbremsen muss. „Von ihm habe ich gelernt, dass man Umdrehen können muss. Weil wir dann die Chance haben wiederzukommen.“ 1986 stehen sie gemeinsam auf dem Gipfel des Lhotse, es ist Messners 14. Achttausender, der damit seine Legende begründet. Als erster Mensch wagt Kammerlander die Abfahrt mit Skiern vom Nanga Parbat und vom Everest. Bis heute war niemand schneller über die Nordseite auf dem Dach der Welt. Dass er zwölf (Die Shisha Pangma, 8027 Meter, wird nicht gelistet, weil Kammerlander den um 19 Meter tiefer gelegenen Mittelgipfel, 8008 Meter, erreichte. Er wähnte sich auf dem höchsten Punkt.) der 14 höchsten Berge ohne Flaschensauerstoff bestiegen hat – Ehrensache.
„Viele Jahre habe ich all das Schöne rund um den Berg nicht beachtet“
Der 59-Jährige sitzt auf einem Holzstuhl in der alten Stube, die er vom elterlichen Bauernhof in sein neues Haus hat integrieren lassen. Es riecht nach Holz, es tut „hoamilan“, wie die Südtiroler sagen würden. Der alte Bauernofen hinten im Eck kann eine Wärme spenden, die schläfrig und glücklich macht. Er hat diese Stube behalten, natürlich, und auch das erzählt etwas über den Menschen Hans Kammerlander.
Wie so viele, die Großartiges geleistet haben, ist er in Wirklichkeit kleiner als angenommen. Um seinen Hals hängen fünf Steine. Die beiden kleinen links und rechts hat er vom Mount Everest und vom K2 mitgenommen, den Xi-Stein in der Mitte schenkte ihm Reinhold Messner nach dem ersten gemeinsamen 8000er. Die Meilensteine seines Lebens, an einer Kette aufgereiht.
Viele Jahre führte er ein Leben auf dem Sprung. Gelang eine spektakuläre Besteigung, musste zwangsläufig der nächste Coup folgen. „Der Berg war mein Leben“, sagt er, „und er wird immer das Hauptthema bleiben.“ Die Geburt seiner Tochter vor acht Jahren änderte vieles. „Jetzt sollen die anderen weiterlaufen.“ Natürlich kann einer, der sein Leben lang voranging, nicht stillhalten. Er arbeitet weiterhin als Bergführer, als Skilehrer. Und er denkt sich neue Projekte aus. 2012 steht er auf dem Gipfel des Mount Logan – und ist damit der erste Mensch, der auch alle sieben zweithöchsten Berge der sieben Kontinente bezwungen hat. Und dann begibt er sich auf die Reise zu den Matterhörnern der Welt, zu Bergen, die ebenso schön sind wie das Schweizer Original. „Viele Jahre habe ich nur die Gipfel und die Wände gesehen und all das Schöne rund um den Berg nicht beachtet.“
Kammerlander gehört zu den bekanntesten Bergsteigern der Welt. Und er war einer der beliebtesten. Ein Mann zum Anfassen, nicht so intellektuell wie Messner, immer ein nettes Wort auf den Lippen oder einen Witz über die italienischen Polizeibeamten. Ein leidenschaftlicher Oldtimer-Sammler, in seiner Garage stehen dicht aneinander geparkt ein paar Cinquecentos, ein VW-Bus, bescheidene Autos, mit inneren Werten. In Sand in Taufers, dem Hauptort des Tauferer Ahrntals, hat er unter dem Dach der Touristeninformation ein Büro. Den Platz gegenüber hat man vor ein paar Jahren nach ihm benannt. Ungewöhnlich ist das, aber es zeigt, wie sehr Kammerlander in seiner Heimat einst geschätzt wurde.
Bis zum 26. November 2013. Nur ein paar Kilometer von seinem Heimatort entfernt verursacht er einen Unfall, bei dem ein junger Mann aus dem Nachbarort ums Leben kommt. Der Bluttest ergibt: Der Extrembergsteiger hatte 1,48 Promille. Seitdem ist nichts mehr, wie es einmal war.
Die Kommunikation in den ersten Tagen nach dem Unfall ist fatal. Kammerlander liegt im Krankenhaus, der Polizeibericht lässt zunächst vermuten, der junge Mann habe den Unfall verursacht. Es folgen unglückliche Aussagen des Managements. Es beginnt das, was das digitale Zeitalter möglich macht: eine Hetzkampagne im Internet. Kammerlander nimmt zur Kenntnis, dass „8000 Beiträge, die meisten negativ, über mich zu lesen waren“. Die meisten schreiben anonym, das verletzt ihn bis heute. „Für diese Sache darf mich jeder kritisieren“, sagt er, „aber so finde ich das extrem feige“. Und was macht er? Er reagiert nicht, sondern zieht sich komplett aus der Südtiroler Öffentlichkeit zurück. Er gibt keine Vorträge mehr in seiner Heimat, steht für Interviews nicht zur Verfügung.
Wer sich mit Krisenmanagement auskennt, sagt, dass es wichtig ist, in solchen Situationen nach vorn zu kommen. Das macht er spät, fast zweieinhalb Jahre nach dem Unfall gibt er sein erstes Interview im deutschen Magazin „1890“. Die Alkoholfahrt bezeichnet er als den „größten Fehler seines Lebens“. „Der Schock sitzt immer noch tief. Es tut mir furchtbar leid.“ Die Presse in Südtirol, die ausführlich über den Unfall berichtete, reagiert unterschiedlich auf die Aussagen. Manche sind sich für boulevardeske Fußtritte nicht zu schade, bei anderen finden die Aussagen, wenn überhaupt, nur in einer kleinen Randspalte Platz.
Die Angriffe gegen seine Person haben seinen Blick auf die Heimat verändert
Ein paar Tage nach Erscheinen des Interviews reist Kammerlander nach Nepal. Das Land und seine Bewohner liegen ihm seit Jahren am Herzen, besonders nach dem schweren Erdbeben im vergangenen Jahr. Mit einer Gruppe umrundet er den Manaslu, seinen Schicksalsberg. 1991 wollte er den Achttausender mit Friedl Mutschlechner und Carlo Großrubatscher bis zum Gipfel besteigen. Beide starben – und Kammerlander beschloss, nie mehr die 8156 Meter hinaufzusteigen. Es gibt ein Bild von jenem verhängnisvollen Tag, das er, schließlich allein übrig geblieben, in seinem Zelt schoss, während draußen der Sturm tobte. Aus entgeisterten Augen blickt einen das pure Entsetzen über das Erlebte an. Es dauerte Jahre, bis er wieder Freude am Bergsteigen hatte. Er hat diese ganzen Berge überlebt, diese ganzen Situationen, in denen ein Tritt über Leben und Tod entscheiden kann – und dann passiert ausgerechnet im Straßenverkehr ein Fehler, der durch nichts mehr gutzumachen ist. Es geht ja nicht nur um den Ruf, der angekratzt ist. „Meine Schuld waren ganz klar diese 1,48 Promille“, sagt er. 2015 wird er in einem Vergleichsurteil zu einem Jahr Führerscheinentzug und zwei Jahren auf Bewährung wegen fahrlässiger Tötung und Alkohol am Steuer verurteilt.
Die Unfallfahrt führt Kammerlander zwangsläufig an einen Wendepunkt. Er weiß, dass man ihn ab jetzt damit verbinden wird. „Es wird nie ganz aufhören“, sagt er. Vielleicht denkt er auch deshalb in letzter Zeit darüber nach, aus Ahornach wegzuziehen, irgendwohin in die Osttiroler Dolomiten. „Heimweh“, sagt er, „hatte ich nie“.
Aber neue Ziele. Im Dezember wird er 60, noch so ein Wendepunkt. Und in ein, zwei Jahren will er den Manaslu besteigen. „Von diesem Berg bin ich geflüchtet, aber jetzt habe ich das Gefühl, dass ich zurück muss.“ Es wäre sein 13. Achttausender. Vielleicht bringt er ein Steinchen mit.
Mehr Informationen unter www.kammerlander.com
„Wenn´s gut geht, bist a Held, wenn´s schief geht, bist halt tot“.
Lesen Sie hier das große ALPS-Interview mit Hans Kammerlander