Wir leben in einer digitalen Welt. Welche Auswirkungen das auf die Berge und den Tourismus hat, erlebe ich mittlerweile fast immer, wenn ich irgendwo unterwegs bin. Wie neulich, als ich von einem Vortrag in Österreich zurückkam und in der Nähe des Pragser Wildsees auf einen obligatorischen Kaffee einkehrte. Ringsum begannen die Wälder sich zu verfärben. Eigentlich ein untrügliches Zeichen dafür, dass die Nebensaison angebrochen war. Aber ruhig, so der Wirt, war es zu dem Zeitpunkt noch lange nicht. Die Straßen, sagte er, seien komplett voll, weil alle unbedingt zum See fahren wollten. Dort machen sie dann das, was jeder tut, der es dorthin schafft: ein Foto vom kleinen Bootshäuschen, im Hintergrund des smaragdgrünen Wassers erhebt sich der Seekofel.
Nach einer Serie im italienischen Fernsehen mit Terence Hill und dem idyllischen Bergsee in der Hauptrolle kennt jeder diesen Ort in Italien. Nun ist er völlig überlaufen. Aber damit steht er keinesfalls allein da. Beispiel Matterhorn, Ziel von Bergfans aus aller Welt. Seine Schönheit mag aus der Ferne betrachtet bestechend sein. Am Berg angekommen, in diesem Bruch aus Geröll, an dem sich an manchen Tagen Hunderte Menschen tummeln, löst sich die vermeintliche Schönheit schnell in Staub auf. Trotzdem wollen alle hin. Dem modernen Zeitgeist entspricht offenbar die Vorstellung, dass die bekanntesten Orte und Berge zugleich auch die schönsten sein müssen.
Extremer Bergtourismus ist kein Phänomen, das in den Alpen endet. An den größten Bergen der Welt hat sich ein Ansturm etabliert, der einen, gelinde gesagt, staunen lässt. Hunderte Menschen, die an einem Tag auf den Gipfel des Mount Everest wollen? Kein Witz! Stau beim Anstieg? Bittere Realität! Unterstützt durch Flaschensauerstoff und Sherpa gelangen Leute nach oben, für die ein Aufstieg über die Normalroute auf den Montblanc passender wäre.
Ich weiß natürlich, dass ich den Expeditionstourismus nicht verurteilen darf. Gerade Extrembergsteiger, die ab den 70er-Jahren den Wettlauf um die höchsten Berge prägten, haben durch ihre Erzählungen, Bilder und Videos dazu beigetragen, dass Menschen neugierig wurden und sich sagten: Da will ich auch mal hin. Wir sind mit schuld an dem Ganzen. Rückblickend weiß ich: Es war großes Glück, dass ich die höchsten Berge der Welt sehr oft fast allein erleben konnte.
An überfüllte Hütten und Wanderwege will ich mich nicht gewöhnen. Ich suche die leisen und unbekannteren Routen und Berge. In der Natur ist so viel Platz, da müssen wir uns nicht gegenseitig auf die Füße steigen. Wenn einer meiner Gäste unbedingt einen ganz bekannten Gipfel einplanen will, dann organisiere ich es so, dass wir weg sind, wenn der große Ansturm kommt. Ich verstehe schon, dass umdenken vielen schwerfällt. Irgendwie scheinen wir Menschen von einem Herdendenken getrieben: Da hin, wo alle anderen auch sind – und dann sofort der Welt da draußen mitteilen, wo man sich gerade befindet.
Bei einer Tour im Rosengartengebiet saß ich mit einer Gruppe an einer Hütte. Vor uns die steil aufragenden Vajolet-Türme, Pferde steckten ihre Köpfe über den Zaun zu uns. Vor uns saß ein Ehepaar. Die beiden waren so sehr damit beschäftigt, auf ihrem Handy herumzudrücken, dass sie die Welt neben sich gar nicht bemerkten. Mit Sicherheit haben sie Fotos aus der Idylle verschickt. Schöne Welt, oder?
Der 1956 in Südtirol geborene Extrembergsteiger gehört zu den bekanntesten seines Fachs. Er stand auf 12 Achttausendern und meisterte als Erster eine von zwei Varianten der Seven Second Summits. In jeder Ausgabe von ALPS erzählt Kammerlander eine Geschichte, die ihn besonders geprägt hat.
Web: www.kammerlander.com