Anfang Oktober und die Herbstverfärbung ist schon in vollem Gange. Obwohl die Wälder hier im Naturpark Karwendel großteils aus einfarbigen Nadelbäumen bestehen, stechen immer wieder Laubbäume mit ihrer gelben Farbenpracht hervor. Diese bunte Jahreszeit lässt sich am besten mit dem Rad, zu Fuß oder gleich als „Bike and Hike“-Kombi erleben
Früh morgens starten wir in Fall bei Lenggries, einem kleinen, verschlafenen Ort am Sylvensteinsee. Neben uns packen schon einige motivierte Bergsportler ihre Bikes aus. Die Zweiräder sind für unsere heutige Unternehmung unverzichtbar, denn unser Ziel, die abgelegene Schreckenspitze (2022 m), ist von unserem Startpunkt aus sehr weit entfernt.
Zuerst müssen über 20 Kilometer und 900 Höhenmeter mit dem Bike zurückgelegt werden. Danach geht’s zu Fuß weiter. Am Grat werden drei Gipfel überschritten: Zunterspitze (1926 m), Moosenspitze (1986 m) und am Ende unser Hauptgipfel, die Schreckenspitze (2022 m).
Das heißt für uns „Bikehiker“ nach dem Bikedepot noch sechs Kilometer und ca. 750 Höhenmeter zu Fuß über schmale Pfade, steile Wiesenflanken und Felsbänder (I). Obwohl der Grat objektiv nicht sehr ausgesetzt ist, sollten bei dieser Tour Schwindelfreiheit und Trittsicherheit mitgebracht werden. Bei Nässe ist von der Überschreitung abzuraten! Die steilen Wiesenhänge verwandeln sich im Nu in tückische Rutschpolster, die keine Fehler verzeihen.
Die Hälfte der Bikestrecke ist konditionell und technisch nicht anspruchsvoll. Eine gut ausgebaute Straße schlängelt sich in gemütlicher Steigung immer entlang des Tiefenbachs. Eine der wenigen Einkehrmöglichkeiten befindet sich am Ende der Teerstraß auf 919 Metern. Das urige Forsthaus Aquila ist in den Sommermonaten bewirtet, jedoch nicht mehr im Oktober. Wer zu wenig Brotzeit dabei hat, wird wehmütig auf die geschlossene Terrasse blicken.
Der komfortable Straßenbelag weicht nun schottrigem Untergrund. Doch kein Grund zum Murren! Unsere Fullys stecken die Schlaglöcher solide weg. Endlich gewinnt die Straße an Steilheit und der dichte Bergwald weicht sonnigem Almgelände. Bei zapfigen 5 Grad Celsius mit schneidendem Fahrtwind freuen wir uns alle über die wärmenden Sonnenstrahlen. Nach einer weiteren Kehre kommen wir an der Tiefenbachalm Mitterleger (1310 m) vorbei.
Mehrere kleine Almen und Ställe reihen sich entlang der Forststraße auf. Ein alter, bärtiger Mann und sein aufgeweckter Hütehund begrüßen uns herzlich, bevor wir nach einem kurzen Tratsch die letzten Höhenmeter anpacken. Jetzt wird es richtig steil. Mein Tacho zeigt 16 Prozent Steigung an. Die Sonne heizt uns zusätzlich ein, dazu ist es windstill. Die warme Zwiebelschicht weicht einem luftigen T-Shirt, das ordentlich für Abkühlung sorgt.
Kurz vor dem Ende der Bikestrecke taucht ein historischer Gebäudekomplex auf, die Steinölbrennerei. Das traditionelle Familienunternehmen blickt auf eine turbulente Vergangenheit in der Ölgewinnung zurück.
Durch Zufall stieß Martin Albrecht Senior 1902 am westlichen Ufer des Achensees auf eine Ölschieferader. 15 Jahre schwelte er dort mit Knappen Steinöl, bis 1917 eine mächtige Lawine die Anlage in den See riss. Er ließ sich dadurch allerdings nicht entmutigen und wurde im nahe gelegenen, 1400 Metern hohen Bächental fündig, durch das wir heute radeln. Dort errichtete er eine neue Lagerstätte, die bis heute die dort erbauten Brennöfen mit Futter versorgen.
Neugierig begutachte ich die alte Brennerei und stelle mir die harten Arbeitsbedingungen im Bergwerk vor, die damals an solchen Orten herrschten. Auch logistisch ist das unvorstellbar. Träger mussten jahrzehntelang das Steinöl in 15-Liter-Fässern hinüber zum Achensee tragen. Über viele Stunden mit dieser schweren Last auf dem Rücken, die unbefestigten Bergpfade hinauf und hinab, das war bestimmt kein Zuckerschlecken. Heute geht alles bequem per Auto über die breiten Forststraßen.
Nach weiteren 80 Höhenmetern kommen wir endlich zu unserem Bikedepot, der urigen Lochalm Mitterleger (1432 m). Im Sommer hat die kleine Hütte anscheinend auch für Gäste geöffnet. Die wenigen Bierbänke und Tische sind ordentlich gestapelt und winterfest gemacht. Wir schließen unsere Bikes am Zaun zusammen und marschieren nach einer kurzen Pause los.
Gute 200 Höhenmeter schlängelt sich der Pfad der Ölträger hinauf zum Gröbner Hals (1650 m). Oben am Sattel angekommen, sehe ich hinunter zur Gröbner Alm, von der es auf einer breiten Straße hinunter nach Achenkirch geht. 710 Höhenmeter und sechs Kilometer trennen den Sattel vom Achensee. Von dieser Seite ist die Gratüberschreitung um ein Vielfaches kürzer, jedoch landschaftlich nicht annähernd so reizvoll wie vom einsamen Bächental aus.
Vom Gröbner Hals ist der Gratverlauf unserer Tour gut zu erkennen. Optisch komprimiert sieht die Überschreitung nach einer schnellen Aktion aus. Doch davon sollte man sich nicht täuschen lassen! Das Gelände wird im oberen Teil um einiges anspruchsvoller und damit zeitintensiver. Über den Nordwestkamm führt der schmale Pfad über Steilwiesen und Felsen hinauf zur Zunterspitze und anschließend im Auf und Ab am scharfen Verbindungskamm südwärts zur Schreckenspitze.
Vom Sattel folgen wir dem markierten Pfad über den sanften Wiesenrücken zum Nordwestgrat der Zuntenspitze. Der Bergrücken wird hier wilder. Abwechselnd führt der Weg über Felsstufen, Schrofen und steile Wiesen. Eine brüchige Felsrampe wird drahtseilversichert hochgeklettert. Das sollte für geübte Bergsteiger kein Problem sein. Anschließend steigen wir am Schrofengrat bis zum Gipfel auf. Auf der Wiesenkuppe befindet sich das kleine Kreuz der Zunterspitze, auch Sonntagsspitze genannt.
Ich warte, bis wir vollzählig sind. In der Zwischenzeit genieße ich den aussichtsreichen Blick zu beiden Seiten des Grates. Das Karwendelgebirge ist hier für seine Verhältnisse sehr grasig und zahm. Schuttrinnen lassen feine, helle Linien über die Bergwiesen laufen, welche vom felsigen Gipfelbereich erodieren. Das erzeugt ein außergewöhnliches, kontrastreiches Muster. Der Gratverlauf zur Schreckenspitze ist nun gut einsehbar. Entlang der Gratkante geht es über einen leicht schrofigen Aufschwung hinauf zur Moosenspitze.
Ich bin so mit Aussicht genießen und schauen beschäftigt, dass mir zuerst gar nicht auffällt, wie viel Edelweiß neben dem Weg wachsen. Büschelweise! Die Begeisterung ist groß, hier oben auf diese exotische Pflanze zu treffen, denn allzu oft sieht man sie nicht. Das Alpen–Edelweiß fühlt sich vor allem in hoch gelegenen Steppengebieten im alpinen Rasen wohl. Dieser Grat ist als Lebensraum anscheinend prädestiniert für diese anspruchsvolle Blume.
Es gibt einen Funfact zum Namen Edelweiß: Der botanische Gattungsname Leontopodium leitet sich von dem griechischen Wort leon für Löwe ab, dies bezieht sich auf die charakteristische dichtfilzige, weiße Behaarung und der Form der Hochblätter.
Ich sollte besser auf den Weg achten, nicht nur der schönen Flora zuliebe … Auf der Mitte des Grates wird es nun etwas Ausgesetzter und Felsiger. Auf der linken Seite bricht die Wand steil ab. Einige Hundert Meter trennen Gratrücken und Talboden. Hier ist Trittsicherheit und Konzentration gefragt, wenn man nicht den Schnellabstieg ins Tal antreten möchte.
Der letzte Gipfel unserer Trilogie, die Schreckenspitze (2022 m), scheint von diesem Standpunkt nur noch einen Katzensprung entfernt zu sein. Bevor der finale Anstieg kommt, gehts noch ein letztes Mal hinunter zu einer kleinen Einsattelung. Der Blick von dort in die Tiefe ist nichts für schwache Nerven! Kalter Wind pfeift über die Gratkante.
Der letzte Aufschwung danach ist schnell gemacht. Steil geht’s die Wiesenflanke hinauf, bevor das silberne Gipfelkreuz vor mir aufblitzt. Jetzt ist endlich Zeit, um die Aussicht auf die umliegenden Karwendelberge zu genießen, ohne dass ein Stolperer fatale Folgen hätte.
Der Rest der Gruppe trudelt nacheinander ein. Trotz des frischen Herbstwindes suchen wir uns gemütliche Wiesenpolster und machen ausgiebig Brotzeit. Der Hunger ist groß, schließlich sind wir schon ein paar Stunden auf den Beinen. Die Sonne gibt ihr bestes, doch trotz der warmen Zwiebelschicht wird uns der auffrischende Nordwind zu ungemütlich und wir treten den Rückweg an.
Der Abstieg erfolgt mit einigen Gegenanstiegen zurück über den Grat, der die Höhenmeter auf der Uhr noch etwas wachsen lässt. Ein paar wenige Wanderer kommen uns entgegen. Aber keine Sorge, für so einen traumhaften Bergtag am Wochenende, im beliebten Karwendel, ist es immer noch sehr einsam …
Am Bikedepot freuen wir uns darauf, die vielen Kilometer hinab nach Fall entspannt runterrollen zu können. Der einzige Wermutstropfen auf dem Rückweg: Auch hier müssen noch ein paar Höhenmeter Gegenanstieg bewältig werden. Am Ende der langen Tour haben wir ca. 1650 Höhenmeter und 46 Kilometer hinter uns. Die Überschreitung der Schreckenspitze ist ein wirklich lohnendes Ziel, wenn man es einsam, abgeschieden und luftig mag.
Ausrichtung // Nord/Ost Bike and Hike Fall – Bikedepot: 3h, Bikedepot – Schreckenspitze: 2,5h, Rückweg: 2h Bike: 40 Kilometer, 900 Höhenmeter. Bergtour: 6 Kilometer, 750 Höhenmeter (inklusive Gegenanstiege).
Art // Bike and Hike
Schwierigkeit // Konditionell schwer. Trittsicherheit sowie Schwindelfreiheit für die Gratüberschreitung notwendig. Nicht bei Nässe oder Schnee begehen!
Orientierung // Von Fall mit den Bikes durch das Bächental, vorbei am Forsthaus Aquila, der Tiefenbachalm und der Steinölbrennerei zum Bikedepot. Von dort auf einem Pfad in etlichen Kehren hinauf zum Gröbner Hals. Ab hier dem schmalen Pfad folgend, immer entlang des Grates. Dabei werden die Gipfel Zunterspitze (Sonntagsspitze), Moosenspitze und Schreckenspitze bestiegen. Abstieg wie Aufstieg.
Beste Jahreszeit // Juli bis Oktober.
Einkehrmöglichkeit // Im Hochsommer hat das Forsthaus Aquila geöffnet.
Anreise // Mit dem Auto:
Über die A8 bis zur Ausfahrt Holzkirchen. Von dort auf der Bundesstraße B13 nach Bad Tölz und weiter über Lenggries zum Sylvensteinspeicher/Fall. Dort befindet sich ein gebührenpflichtiger Wanderparkplatz.
Parkplatz // Am Nachtparkplatz vorbei, bis ans Ende des Dorfes Fall.
Kosten // 5 Euro.
Mit den Öffentlichen:
Von München kommend mit der Bahn BRB in 1:30h nach Lenggries. Dort in den Bergsteigerbus/Bergbus Eng einsteigen bis nach Fall (der Bus fährt nur im Zeitraum vom 29.05. – 10.10.21).
Ausrüstung // Bergtourenausrüstung, Bike, gute Brotzeit.
TIPP // Wer sich für die Geschichte des Steinöls interessiert: In Pertisau am Achensee, im architektonisch anspruchsvollen Vitalberg, lebt die Geschichte der Steinölbrennerei des Bächentals neu auf. Als Erweiterung zum Museum wurde im Sommer 2002 die Idee des Tiroler Steinöl Vitalbergs geboren. Die Nordseite ist einem Bergstollen nachempfunden und lässt Besucher in die Arbeit der unermüdlichen Bergarbeiter eintauchen. Zudem lädt die stillvolle Atmosphäre der Panorama-Café-Bar ein, die Impressionen noch einmal Revue passieren zu lassen.