Das Riedberger Horn ist mit 1787 m der höchste Berg der Allgäuer Hörnergruppe. Nun droht es zum Symbol für das Ende des bayerischen Alpenschutzes zu werden. Denn ein geplanter Verbindungslift stellt die bislang als wegweisend geltenden Richtlinien des Alpenplans in Frage. Eine Bestandsaufnahme
Es könnte schön sein in Balderschwang. Rund um das Dorf saftige Wiesen, wippende Blumen, weidende Kühe, ringsum die Gipfel der Allgäuer Alpen, aufgereiht wie auf einer Perlenschnur. 1200 Stück Vieh gibt es hier, und 40 Almen, auf denen die Tiere den Sommer verbringen. Dazu kommen sieben Sennalmen, in denen die einzigartig würzige Milch von „sömmernden“ Gebirgskühen unmittelbar zu Käse verarbeitet wird. Ein Sinnbild von Natur und Frieden. Wäre da nicht der Schatten des Riedberger Horns, der den Blick auf die 300-Seelen-Gemeinde, den Nachbarort Obermaiselstein und auch die zugehörige Ferienregion der „Hörnerdörfer“ zunehmend verdunkelt.
Dieser Gipfel hat es zum berühmtesten Berg Deutschlands gebracht, doch nicht etwa wegen seiner Schönheit, Artenvielfalt oder dem Traumblick in Richtung Vorarlberg und Schweiz, sondern wegen des erbitterten Streits um den Bau eines Verbindungslifts zwischen dem zu Balderschwang gehörenden Skigebiet Riedberger Horn und dem Obermaiselsteiner Skigebiet Grasgehren.
Am 28. März hat die bayerische Staatsregierung den Weg für das Projekt freigemacht. Nun steht das Riedberger Horn für viele vor allem für den gravierenden Bruch mit einer Umweltschutzrichtlinie, die vor über vierzig Jahren vom bayerischen Staat verabschiedet wurde: dem Alpenplan. Die kluge Regelung gliedert Bayerns Alpengebiet in drei verschieden gewichtete Zonen und erlaubt neue Lift- und Straßenbauten nur in bereits erschlossenen Regionen. Dem Eingriff in sensible Naturzonen dagegen schob der Alpenplan bislang einen kategorischen Riegel vor und ließ somit manches aus heutiger Sicht völlig abstruse Projekt wie eine Seilbahn auf den Watzmann in der Schublade verschwinden.
Das Kabinett stimmte dem Vorhaben in einem Tempo zu, in dem die bis zum Ablauf der Einspruchsfrist am 22. März eingegangenen 4000 Einwände von Bürgern und Verbänden unmöglich geprüft worden sein können. Und das, obwohl die Trasse der geplanten Kabinenbahn und auch die zugehörige Piste Gebiete durchschneiden, die im Alpenplan als äußerst schutzwürdig ausgewiesen sind. Besonders heikel: Genau dort liegt auch einer der letzten Rückzugsorte des ohnehin extrem selten gewordenen Birkhuhns. Dem Regierungsbeschluss vorausgegangen war im vergangenen September ein Bürgerentscheid, in dem sich 85 Prozent der Balderschwanger und 68,3 Prozent der Obermaiselsteiner für den Bau dieser umstrittenen Kabinenbahn aussprachen. Aber ist ihnen der Schutz der Natur deshalb wirklich egal? „Unser Dorf lebt zu 50 Prozent von der Landwirtschaft, zu 50 Prozent vom Tourismus. Die Gäste kommen, weil sie die Ruhe und die Natur suchen. Würden wir die Natur zerstören wollen, würden wir den Ast absägen, auf dem wir selbst sitzen“, wehrt sich Balderschwangs Bürgermeister Konrad Kienle gegen derlei Anwürfe, wie schon viele Male zuvor.
„4000 Einwände von Bürgern und Verbänden wurden nicht mehr geprüft“
Kienle ist zwar selbst Hotelier und verbindet mit dem Projekt natürlich auch eigene Interessen. Doch sein „Adlerkönig“ – ein Familienbetrieb mit fairen Preisen, kinderfreundlichen Angeboten und einem hauseigenem Kräutergarten, durch den Kienles Frau Führungen veranstaltet – erweckt nicht gerade den Eindruck, als ginge es den Besitzern ums schnelle Geld ohne Rücksicht auf Verluste. Insofern richtet sich Kienles Unmut nicht zu knapp gegen die Verbände, die in Scharen gegen den Bau der Verbindungsbahn protestieren – sie müssten durch ihre Aktivitäten, vermutet er, gegenüber ihren Mitgliedern ihre Existenzberechtigung nachweisen.
Wer in München oder einem anderen gewichtigen Wirtschaftsstandort lebt, tut sich mit einer sehr rigiden Haltung in Sachen Naturschutz tatsächlich ein bisschen leichter als jemand, den jeweils eine knappe Autostunde von den nächsten größeren Zentren Kempten (Allgäu) und Dornbirn (Vorarlberg) trennt. Den Balderschwangern bleibt zum Verdienst aus Tourismus oder Landwirtschaft kaum eine Alternative; beide sind ineinander verwoben: Die Sommertouristen kommen wegen der vielen gepflegten Alpwiesen und Sennalpen, die Bauern liefern Milch und Käse an Hotellerie und Gastronomie und haben sich nicht selten mit der Vermietung von Ferienwohnungen ein zweites Standbein aufgebaut.
In diesem Kontext erscheint es in einem anderen Licht, wenn ein Dorf fast einmütig für die Errichtung des Verbindungslifts auf Kosten der Schutzzone votiert. Mit einer Größe von rund 50 Pistenkilometern, welche die beiden Skigebiete nach ihrem Zusammenschluss bieten könnten, bestünde eine durchaus realistische Perspektive, als familienfreundliche Alternative gegenüber den gigantischen Skiarenen in Tirol und Vorarlberg zu punkten. Und das vor allem bei einer wachsenden, megalomanie-müden Klientel, die gegenüber sanften Wintersportarten recht aufgeschlossen ist, auch wenn sie vom Alpin-Skifahren nicht völlig lassen will.
Ein solches Konzept bietet eine wirtschaftlich tragfähige Variante zur kompletten Konzentration auf sanften Tourismus, wie sie in den vom Österreichischen und mittlerweile auch vom Deutschen Alpenverein als ,Bergsteigerdorf‘ ausgezeichneten Orten praktiziert werden. Diese haben sich massiven Erschließungsmaßnahmen ebenso entsagt wie der großflächigen Ansiedlung neuer Hotels. Deshalb stehen sie wegen dem im Vergleich zum alpinen Skibetrieb wesentlich geringeren Investitionsvolumen nicht so stark unter wirtschaftlichem Erfolgsdruck. Nicht selten funktioniert dieses Modell allerdings vor allem dort gut, wo die Menschen – wie im Kärntner Lesachtal – von ihrer Mentalität her am großen Tourismus ohnehin nicht interessiert sind oder – wie im Schmirntal oberhalb von Innsbruck – nicht zu weit von Wirtschaftszentren entfernt liegen, die der Bevölkerung alternative Einkommensquellen bieten.
Ohnehin sind die Balderschwanger und Obermaiselsteiner längst über den Punkt hinaus, an dem sich über das Für und Wider noch sachlich diskutieren ließe. Die Fronten sind beinhart. In einem der Orte einen Gesprächspartner aufzutun, der offen gegen das Liftprojekt argumentieren würde, ist nicht möglich. Nur der streitbare Vorsitzende der zuständigen Ortsgruppe des Bund Naturschutz, Michael Finger aus Oberstdorf, wird nicht müde, sein Wort zu erheben, auch wenn ihm die Betreiber des örtlichen Skigebiets von Balderschwang mit einer Klage drohten. „In so kleinen Dörfern“, meint Finger zu der geschlossenen Haltung der Bürger, „ist der soziale Druck sehr groß, zumal naturgemäß viele verwandtschaftliche Verbindungen bestehen. Da schert kaum jemand aus der Linie aus, selbst wenn er eigentlich anders denkt.“ Finger sieht den Schutz der Nasswiesen, Flachmoore, Hochstaudenflure und Birkhühner nicht nur durch den Bau und die Präsenz von Liftanlage und Skipiste beeinträchtigt. Die Natur leide auch durch den beständigen Lärm und das nächtliche Licht, mit dem später die Wartungs- und Pflegearbeiten einhergehen. Der kämpferische Naturschützer fürchtet darüber hinaus die Signalwirkung einer ersten Lockerung des rigiden Alpenschutzkonzepts.
Zwar sehen lokale Lift-Befürworter wie Bürgermeister Kienle im nun erfolgten Aufweichen dieses Instruments durch einen Tausch von Gebieten innerhalb der verschiedenen Schutzzonen einen Einzelfall. Doch kaum war die Kabinettsentscheidung in München gefallen, standen die ersten Nachahmer bereits auf dem Plan: In der Ferienregion Pyhrn-Priel im oberösterreichischen Nationalpark Kalkalpen schöpfen Liftbetreiber, deren geplante Verbindungsbahn zweier Skigebiete soeben aus Naturschutzgründen abgelehnt wurde, neue Hoffnung: Nach dem Vorbild der Strategie am Riedberger Horn will man nun auch hier den Nationalpark auf der einen Seite großzügig erweitern, um auf der anderen Seite eine vergleichsweise kleine Fläche aus dem strikten Naturschutz herauslösen zu können. „Das sind zwei Situationen, die sich nicht wirklich vergleichen lassen“, weiß Erwin Rothgang, Präsident des deutschen Zweigs der Internationalen Komission zum Schutz der Alpen, CIPRA. „Der bayerische Alpenplan ist im gesamten Alpenbogen einzigartig. Kein anderes Alpenland hat sich eine derart strikte Umweltverordnung auferlegt – das ist ja der Grund, warum der Alpenplan als derart vorbildlich gilt und wir beständig daran arbeiten, ein vergleichbares Konzept auch in anderen Ländern einzuführen. Insofern können sich die Liftbetreiber in Pyhrn-Priel argumentativ schlecht auf das Vorgehen am Riedberger Horn berufen, da es in Österreich so etwas wie den Alpenplan gar nicht gibt.
„85 % der Balderschwanger sprachen sich für den Bau der umstrittenen Kabinenbahn aus“
Alle Bemühungen aber, auch anderswo einen solchen Plan aufzustellen, sind zum Scheitern verurteilt, wenn er selbst in seinem Ursprungsland nicht mehr stringent eingehalten wird. Außerdem besteht nun tatsächlich die Gefahr, dass sich auch andere Regionen in Bayern versucht sehen, ihre seit vierzig Jahren begrabenen Projekte wieder aus der Schublade zu holen.“ Bevor aber mit dem Bau des Verbindungslifts begonnen werden kann, muss erst noch der Landtag Ende des Jahres über eine entsprechende Fortschreibung des Landesentwicklungsprogramms abstimmen. Bis dahin will Rothgang viel Lobby-Arbeit leisten – tatsächlich steht nicht einmal die CSU-Fraktion selbst geschlossen hinter der geplanten Änderung. Michael Finger dagegen glaubt nicht mehr an eine politische Lösung. Der Bund Naturschutz stellt sich auf eine gerichtliche Klage ein. Sollte auch die nichts helfen, „bin ich mit dem Protestschild da, wenn die Bagger kommen“, kündigt Finger schon einmal an.
Eines aber scheint auf alle Fälle sicher: Es wird noch viel geschrieben werden über das Riedberger Horn, und das Wenigste wird dazu angetan sein, positive Werbung für die Region zu machen. „Unser Skigebiet leidet unter der dauernden Negativberichterstattung, an der Sie als einer der Hauptinitiatoren den wesentlichen Anteil haben“, heißt es ungeschminkt in der Klageandrohung, die die von der Baumaßnahme gar nicht unmittelbar betroffene Bergbahn- und Skilift Balderschwang Betriebs-GmbH & Co. KG an Michael Finger schickte. Was den Ruf ihrer Gemeinden, und auch ein friedliches Miteinander der Menschen in den Hörnerdörfern anbelangt, haben alle Beteiligten längst verloren. Ganz egal, wie die Sache ausgeht.
Statements zum Alpenplan auf der Website des Deutschen Alpenvereins unter www.alpenverein.de
Seit zehn Jahren verpflichtet die Alpenkonvention alle Länder des Alpenbogens zu nachhaltigen Fremdenverkehrskonzepten. Das kleine Lesachtal in Kärnten gehört zu den Regionen, die beispielhaft zeigen, wie blendend diese Ansätze funktionieren können – wenn man nur den Weg der kleinen, aber durchdachten Schritte geht (ALPS Magazine #10 3/2012 Review): Alpenkonvention – Auf die sanfte Tour