Auf 3175 Metern über Meereshöhe kann man sich auf der von Hüttenwirt Thomas Grollmus und seinem kleinen Team geführten Hochstubaihütte ganz wunderbar von der Sommerhitze erfrischen lassen
Auf keinen Fall hecheln oder in Schnappatmung verfallen!“, höre ich die versierte Eiswasserkönigin sagen, bevor ich selbst hüllenlos in den Laubkarsee tapere. Dorthinein, wo besagte Expertin gerade noch in aller Seelenruhe mit einem Berggefährten minutenlang entspannt ihre Bahnen gezogen hat. In einem auf 2700 Metern Höhe gelegenen See, dessen Aggregatzustand über das Jahr hinweg länger gefroren als flüssig ist. Heute ist er unsere Blaue Lagune. Inhale, exhale … das funktioniert für die ersten 30 Sekunden, nach einer weiteren Minute und sehr wenigen Schwimmzügen eile ich, einem anlandenden Walross gleich, zurück ans grasige Ufer. Mein im eiskalten Wasser schockgefrorenes Ich lasse mich dort auf einem warmen, flachen Felsen in der Augustsonne wieder auftauen. Es ist das bis jetzt heißeste Wochenende des Jahres. Eine Stunde zuvor waren meine Wandergefährten Anne, Uli, Pit und ich weiter oben noch durch Schneefelder gestapft und haben hinab auf das Eisfeld des Wütenkarferners geblickt.
Am Vortag irrlichtern wir vier, öfter im Winter zusammen auf Skitouren unterwegs als im Sommer, im Ötztal durch den in der Hitzewelle vor sich hinköchelnden Skiort Sölden, bevor uns ein klimatisiertes Bergtaxi schluckt. Knapp 500 Höhenmeter höher spuckt es uns auf einem Wendeplatz im einsamen Windachtal wieder aus. Hier sind weder armierte und behelmte Mountainbiker, die sich von Gondeln bergauf tragen lassen, um sich in ihr Downhill-Abenteuer zu stürzen; noch funktionsgekleidete Rennradfahrer oder trotz tropischer Temperaturen dick gewandete Motorradfahrer, die Richtung Timmelsjochpass fahren. Auch kein Hinweis mehr auf James Bond, der auf den Gipfeln der Ötztaler Alpen eines seiner Abenteuer bestehen musste, was ausgiebig beworben wird – sogar auf der Seite unseres Taxis. Nur wir vier Sommerfrischler mit leichten Rucksäcken gehen einen breiten, ungeteerten Wirtschaftsweg zu einem abzweigenden schmalen Steig, der uns Kehre um Kehre zur Hochstubaihütte in 3175 Metern Höhe bringen wird. Ein lauer Bergwind begleitet uns, keine Hitze mehr. Pit beschließt, seine schweren Bergstiefel auszuziehen, geht barfuß auf dem lehmigen Pfad weiter. Von hinten betrachtet, wie er durch blühende Bergwiesen dahinschreitet, mit den gewaltigen Felswänden weit über ihm, sehe ich einen der Ringgefährten und falle gedanklich in die Welt Tolkiens. Über den Bergriesen der Stubaier und Ötztaler Alpen suche ich nach den großen Adlern, in den weiten Tälern, in die wir von immer höheren Standpunkten aus blicken, vermute ich die Reiter von Rohan.
Die Orks und ihr Herrscher Sauron im Osten sind weit weg, hier ist es noch, das Auenland. Aber ist nicht da oben, hinter den abweisenden Felswänden, das Reich eines anderen dunklen Fürsten? Auf der sogenannten Himmelsleiter, einer aus unzähligen Felsplatten gelegten Treppe durch fast senkrechte Felswände, erreichen wir wenige Stunden später den Durchschlupf zu einem kleinen Hochplateau. Wie einer Kinderzeichnung entsprungen thront dort eine einladende Hütte auf einem kleinen Gipfel, um sie herum in allen Richtungen: noch mehr Gipfel.
Wir befinden uns auf über 3000 Metern Höhe, der Winter hat hier seinen Schnee noch nicht ganz an den Sommer abgegeben. Auf dem Gipfel des Hohen Nebelkogels, der mit 3211 Metern Höhe die nahe Hütte nur wenig überragt, liegen wir lange dösend in T-Shirt und kurzen Hosen in der Höhensonne. Das überhitzte Tal, hier oben ist es in ferner Tiefe. Die Hochstubaihütte hingegen, samt Bettenlager, Abendessen, Kaltgetränken und warmer Stube, liegt in Rufweite. Manche nennen sie das höchste Gasthaus Dresdens, weil sie von der gleichnamigen Sektion des Deutschen Alpenvereins bewartet wird. Was einem oft so selbstverständlich erscheint, eine bewirtschaftete Hütte auf dieser Höhe, weit abseits von befahrbaren Wegen, Seilbahnen und Wasser- und Stromnetz, ist ein gemeinschaftlicher Kraftakt der Sektion und muss mit Hubschraubern versorgt werden. Wegewartung, Instandsetzung und Betrieb der Hütte sind nur machbar mit regelmäßiger Hilfe ehrenamtlicher Helfer. Für den täglichen Betrieb arbeitet im Sommer ein kleines Team von Zauberern um Hüttenwirt Thomas Grollmus und seine Frau Kerstin. Beim Anblick seines Barts und Huts denke ich an den guten Magier Gandalf, aber ganz so alt und weiß ist Tom, wie er sich selbst nennt, trotz seiner nun zwölften Saison hier oben nicht.
Die Selbstverständlichkeit einer Hochgebirgshütte, die wir für kurze Zeit in Anspruch nehmen dürfen, ist keine Zauberei, sondern harte Teamarbeit. Tag für Tag sind sie Köche, Elektriker, Hoteliers, Hausmeister, Bergführer, Seelsorger, Zimmerer, Schankwirte, Putzkräfte, Rezeptionisten, Klempner, Ersthelfer, Improvisateure. Auf über 3000 Metern Höhe. Vor allem aber sind sie gastfreundlich und strahlen hochalpine Gelassenheit aus. Die mehr als achtzig Jahre alte Hochgebirgshütte ist eine der höchstgelegenen der Ostalpen, für uns ein sommererfrischendes Wochenendziel, für viele Gäste Teil eines mehrtägigen Hüttentrekkings. Nach dem Abendessen zieht uns ein nicht endender Sommerabend hinaus. So weit oben werden wir zum Teil des Alpenglühens. Rasch auf- und abziehende Wolken vermengen sich mit dem Licht der abnehmenden Abendsonne. Anne und Uli haben eine windgeschützte Terrasse gefunden, auf der ich Weinschorle trinkend abwechselnd ihnen beim Abendyoga und dem grandiosen Spektakel der Natur um uns herum zusehe. „Hobbit Pit“ steht gebannt vom Natur- und Yogaschauspiel wie ein Packerl Kunsthonig herum und strahlt dabei, als ob ihm der weiße Zauberer Grollmus höchstpersönlich ein eigenes Feuerwerk entzündet hätte.
Da sich ab Mittag laut Wetter-App ein Wettersturz ankündigt, sagen wir am nächsten Tag nach dem Frühstück unsere geplante kleine Gipfeltour zur Warenkarseitenspitze ab. Für unseren Abstieg nehmen wir heute einen anderen Weg, kommen an von Gletschern abgeschliffenen Felsen vorbei und blicken auf den Wütenkarferner. Mit jedem Höhenmeter tiefer kommen wir weiter zurück in den Hochsommer und sind beim Anblick des tiefblauen Unteren Laubkarsees bereit für eine Abkühlung. Beim weiteren Abstieg besuchen wir noch den Söldenkogel, kommen dort oben an einer kleinen Schafherde vorbei, die in Wollkleidern auf Schneeresten döst. Eine Ziegenherde meckert uns hinterher. Wir erreichen die Kleblealm, die in idyllischer Schönheit wie das Hobbit-Dorf Beutelsend wirkt. Weit über dem Ötztal stehen alte Häuser, Scheunen, eine Kapelle sowie ein Gasthaus auf 2000 Metern Höhe. Es gibt großartigen Kaiserschmarrn, bevor uns ein Bergtaxi, voll mit Sommerfrischlern wie wir es sind, zurück ins Tal zur Hitze bringt.
Anreise: Mit Bahn und Bus über Wörgl, Ötztal-Bahnhof nach Sölden oder mit dem Pkw. Parkmöglichkeiten über Nacht im Parkhaus an der Gondelstation.
Mit einem Bergtaxi von Sölden ins Windachtal, das spart ca. 500 Höhenmeter Aufstieg.
Aufstieg: Aus dem Windachtal von der Fiegls Hütte über einen Steig knapp 1200 Höhenmeter zur Hochstubaihütte, vorbei am Seekarsee (erste Bademöglichkeit), dann bald über die sogenannte Himmelsleiter. Trittsicherheit und Schwindelfreiheit erforderlich. Bei diesem Aufstieg und auch auf dem Abstieg über die Laubkarseen zur Kleblealm ist keine Hochtourenausrüstung erforderlich. Da das Wetter in der Höhe aber jederzeit umschlagen, es auch im Sommer sogar schneien kann, sollte man immer ausreichend geeignete Bekleidung mitnehmen. Die Hütte hat ab ca. Mitte Juni bis Mitte September geöffnet. Wunsch nach vegetarischem Essen bitte bei Reservierung angeben.
Web: www.hochstubaihuette.at
Hüttengipfel: Hoher Nebelkogel, 3211 m, von der Hütte unschwer in ca. 20 Minuten erreichbar. Warenkarseitenspitze, 3345 m, unmarkierter Steig über einen Grat, eine versicherte Felsplatte sowie Schutt und Geröll. Für die meisten anderen 3000er-Gipfeltouren benötigt man Hochtourenerfahrung und -ausrüstung. Übergänge zu anderen Hütten findet man auf outdooractive.com. Fahrzeiten des Hüttentaxis von Sölden ins Windachtal und retour unter www.oetztal.com, oder man bucht sich individuell ein eigenes.