Diese Zimmer mit Aussicht bieten Alpinisten Schutz in den wirklich heiklen Momenten. Der Fotograf Marco Volken hat auf Schweizer Alpentrails schwindelerregende Zufluchtsortsorte für Notdürftige entdeckt. über Geschäftemacherei jenseits der Baumgrenze
Was unterscheidet den Mensch vom Murmeltier? Nicht viel: Beide lieben die Berge, pfeifen umher und sind im Winter müder als im Sommer. Nur eines erhebt unsere Gattung im alpinen Raum über die putzigen Nager: die tiefe Sehnsucht, in manchen Momenten ganz für sich allein zu sein. Kein Problem für den Genusswanderer, der die 50 Meter von der Gondel zur Ausflugshütte in der Gewissheit zurücklegt, die üppige Flüssigkeitszufuhr später im großzügigen Toilettenbereich wieder komfortabel ausgleichen zu können. Der Wind bläst hier nur noch als Handtuchersatz Dyson Airblade neben dem infrarotgesteuerten Warmwasserwaschbecken.
„Verdammt sei die berggrasgrüne Etikette, die längst den Gassibeutel für Wandersleute fordert“
Doch was machen jene, die sich abseits der Kniebundpfade in die weglose Weite der Bergwelt wagen? Oberhalb der Baumgrenze spüren Alpinisten das Kribbeln jener Freiheit, die genau so lange grenzenlos bleibt, bis der Stuhldrang einen unsanft in die Realität zurückholt: kein Örtchen, nirgends. Die nächste Schutzhütte? Zwei Stunden entfernt. Der Bergsee da drüben? Vier Grad kalt. Hinkelsteine? Fehlanzeige. Selbst Murmeltiere können, wenn auch nicht fern des Rudels, in ihren schmalen Tunneln Knöllchen verteilen. Dem Menschen bleibt in höchstgelegener Not allzu oft nur die temporäre Selbstaufgabe: Scheiß drauf, dass mich genau jetzt 500 Meter weit alle sehen können. Verflucht seid Ihr, Fernglasträger! Und verdammt die berggrasgrüne Etikette, die längst den Gassibeutel für Wandersleute fordert, Beutel, die dann im Rucksack weder psychologisch noch olfaktorisch Hochstimmung zulassen.
Doch es gibt mancherorts Linderung der Qual: stille Orte mit Gipfelblick, die der Schweizer Fotograf Marco Volken seit Jahren liebevoll dokumentiert. Die Absurdität, dass diese Häuschen meist auf Kilometer die einzigen von Menschenhand geschaffenen Bauwerke sind, ist in Wahrheit keine. Es sind Gnadenorte, die uns ganz oben vor der Schmach der Open-Air-Toilette bewahren. Es sind Schutzhütten im eigentlichen Wortsinn. Majestätische Plumpsklos, die im Fall der Fälle das Herz höher hüpfen lassen. In diesen Sphären, in die kein Dixiklo-Laster oder Toi-Toi-Transporter je vordringen wird, sind die gezimmerten und gemauerten Büdchen Kathedralen des menschlichen Behauptungswillens. Wer abends im Tal die geschundenen Glieder mit Murmeltiersalbe einreibt und an seinen Budenzauber in 3000 Meter Höhe denkt, der weiß: Ob groß, ob klein – hier war ich Mensch, hier durft ich’s sein.
„STILLE ORTE“ Eine andere Reise durch die Schweiz; Marco Volken, 128 Seiten, 100 Abb., vierfarbig, 27 x 21 cm, Hardcover, AS Verlag, 44,90 Euro